Einige müssen es gewusst haben, viele haben es möglicherweise geahnt, was in den Korntaler Kinderheimen passierte. Doch gesprochen wird bis heute kaum darüber.

Korntal-Münchingen - Kein Wort zuviel in der Öffentlichkeit. Bloß nichts sagen. Seit Detlev Zander die Missbrauchsfälle in den Korntaler Kinderheimen der evangelischen Brüdergemeinde im Jahr 2014 öffentlich gemacht hat, ist der Korntal-Münchinger Stadtteil zwar immer wieder überregional in den Schlagzeilen, und die Aufarbeitung ist noch lange nicht beendet. Doch in Korntal, so scheint es, bleibt alles ruhig. Als wäre nichts gewesen.

 

Dabei haben die ehemaligen Heimkinder Täter namentlich benannt. Sie haben über Fälle von psychischer und physischer Gewalt und Erziehungsmethoden gesprochen, die schon in den 1960er und 1970er Jahren das Maß überschritten – als härtere Methoden durchaus üblich waren. Die Wissenschaft beginnt erst mit der Aufarbeitung des unrühmlichen Kapitels der Heimerziehung in Korntal. Sie wird die Schilderungen der Betroffenen auch auf ihre Plausibilität hin prüfen. Doch zeichnet sich bereits ab, dass viele im Ort gewusst haben können, mindestens geahnt haben müssen, was in den beiden Heimen passierte.

Manch einer der mutmaßlichen Täter und Mitwisser lebt nach wie vor in dem 9000 Einwohner-Stadtteil Korntal, wo viele Familien seit Generationen der Brüdergemeinde angehören. Man kennt sich, schweigt und macht die Betroffenen ohnmächtig erneut zu Opfern, die sich erst Gehör verschaffen müssen..

Auch wenn dieses Schweigen auf den ersten Blick verwundern mag, ist es laut Julia von Weiler typisch. Das Vorstandsmitglied von Innocence in Danger, einer international operierende Nichtregierungsorganisation, die sich gegen sexuellen Missbrauch von Kindern positioniert, schildert unterschiedliche Gründe dafür. Viele Betroffene schwiegen noch Jahre oder Jahrzehnte später, aus Angst, dass sich das Bild, das andere von ihnen haben, ändert. Andere wiederum nähmen es übel, wenn Missbrauch überhaupt publik gemacht wird, weil ihre eigenen guten Erinnerungen an die Heimzeit getrübt würden. Und wer nichts bemerkt und demnach auch nicht eingegriffen hat, mache sich oft Vorwürfe, weil er doch etwas hätte ahnen können, erklärt von Weiler.

Soziale Kontrolle versus öffentliche Diskussion

Ob ein solches Thema öffentlich diskutiert wird oder nicht, hängt laut Nikolaus Jackob auch mit sozialer Kontrolle zusammen. „Dieses Muster taucht immer wieder auf“, sagt der Geschäftsführer des Instituts für Publizistik an der Universität Mainz. Eine Gemeinschaft übt Druck auf Einzelne aus, sich der Gruppennorm entsprechend zu verhalten. Die Kontrolle sei insbesondere stark in engen sozialen Verbänden, deren Mitglieder sich nahestehen und gut kennen. „Wer gegen die Regeln verstößt, wird schlimmstenfalls vom Sozialverbund isoliert“, sagt Jackob – oder, wie es der US-amerikanische Forscher Edward Ross einst formulierte: Er fällt „tot aus der Gesellschaft“. Sozial ausgestoßen zu sein, sei für viele eine so schlimme Vorstellung, „dass sie in Extremsituationen sogar bereit sind, Verbrechen zu decken und offensichtliche Missstände zu verschweigen“, sagt Jackob.

Inzwischen blicken etliche Wissenschaftler sowie Vertreter von Organisationen und Verbänden nach Korntal. Doch nur wenige der Begleiter äußern sich öffentlich. Zu groß ist die Gefahr, erworbenes Vertrauen vor allem der ehemaligen Heimkinder zu verspielen. Sie begleiten die Betroffenen, die Wissenschaftlerin Mechthild Wolff, die binnen eines Jahres gemeinsam mit den ehemaligen Heimkindern das Brüdergemeindewerk dazu brachte, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Immerhin spricht der weltliche Vorsteher Klaus Andersen vom Brüdergemeindewerk inzwischen als Täterorganisation.

Aufarbeitung in der Gemeinde

Auch Sigrid Kumberger hat sich mit Korntal befasst. Die Mutter zweier betroffener Söhne hatte vor sechs Jahren die Methode des Vertuschens sexueller Handlungen gegen Kinder in einem bayerischen Sportverein beschrieben. Sie und ihr Mann waren „plötzlich die Nestbeschmutzer“. „Wie tickt diese Gesellschaft, wenn es um dieses Thema geht?“, fragt sie. „Es war wie in einem schlechten Film“, sagt sie heute. Jeder habe einen Grund nennen können, warum er weggeschaut, warum er geschwiegen habe. Letztlich, so ihr Fazit, gehe es offenbar darum, mit der eigenen Schuld umzugehen. Weggeschaut zu haben, wo man hätte hinschauen müssen, geschwiegen zu haben, wo man hätte laut werden müssen. Je mehr Zeit zu den Vorfällen verstreiche, desto schwieriger würde es, das Schweigen zu brechen.

Ursula Enders verantwortete die sozialwissenschaftliche Untersuchung der Missbrauchsfälle in der nordelbischen Landeskirche. Dort machte sie die Erfahrung, dass nicht nur die Betroffenen traumatisiert seien, sondern es zum Trauma für die Gemeinde werden könnte. Sie wolle die Nichttäter schützen, macht sie deutlich. Dafür bedürfe es aber Experten, die die Aufarbeitung in der Gemeinde begleiten. „Die Vergangenheit darf nicht geleugnet werden. Und der Neubeginn muss mit positiven Akzenten versehen werden.“