Welche Vorstellung von Kindern hatte die Gesellschaft in dieser Zeit?
Bis in die 60er Jahre galt, dass die junge von der älteren Generation zu erziehen ist. Die junge Generation war Objekt der Erziehung. Die Autoritätspersonen – Eltern, Lehrer, Erzieher, Lehrherrn, Geistliche – hatten ein rechtlich zugesichertes Mandat zur Züchtigung. Die Erzieher in Heimen konnten sich sogar auf ein „besonderes Gewaltverhältnis“ berufen.
Was hat dieses Bild geprägt, welche Rolle spielt die deutsche Geschichte?
Autoritäre und obrigkeitsstaatliche Verhältnisse haben über Jahrhunderte alle gesellschaftlichen Bereiche durchzogen und reguliert. Die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik waren nicht nur eine Zeit des Wirtschaftswunders, sondern auch der Verdrängung der NS-Zeit. Das gilt auch für die Erziehungsverhältnisse. Die Geschichte der Heimkinder gehörte bis vor zehn Jahren zur verdrängten Geschichte der Bundesrepublik.
Sie sprechen von schwarzer Pädagogik. Ist der Begriff geeignet, die christlich begründete Pädagogik in kirchlichen Einrichtungen zu beschreiben?
Die „schwarze Pädagogik“ meint generell autoritär-strafende Erziehungsverhältnisse in der Gesellschaft, in denen Kinder Objekte der Erziehung sind. Hier haben religiöse Legitimationen eine besondere Bedeutung, weil die christliche Kultur über Jahrhunderte auch die Erziehung geprägt hat. Die Kinder sollten mit Reue und Buße zur Frömmigkeit erzogen werden. Damit war die irrige Vorstellung verbunden, dass sie mit Strafe und Gewalt zur Einsicht kommen würden.
Insofern ist Korntal wohl nicht die einzige Einrichtung, in der es zu Gewalt kam.
Es gab soweit bekannt in allen Einrichtungen unterschiedliche Formen und Ausmaße von Gewalt. Zu konstatieren ist ein kollektives Versagen gegenüber den Heimzöglingen. Der Staat hat die Kinder weitgehend den kirchlichen Trägern überlassen, und die Gesellschaft hat sich für deren Schicksal nicht interessiert. Hier arbeiteten vielfach schlecht ausgebildete und schlecht bezahlte Erzieher. Es gab eine große Fluktuation und zu große Gruppen. Wie schlecht auch immer die Bedingungen waren, in den Heimen herrschte eine Unkultur von Einschüchterung, Druck und Kontrolle. Dies ließ kein Eigenleben von Kindern und Jugendlichen zu, blockierte deren Entwicklung und die Herausbildung von Selbstbewusstsein. Und es gab Aufteilungen in Familien, die vorgaben, Familienersatz zu sein. Das beförderte die Alleinherrschaft von Erziehern.
Letztlich waren also weder Kirche, noch Staat, noch Gesellschaft verantwortlich?
Keine Ebene kann sich rausreden und sich ihrer jeweils spezifischen Zuständigkeit und Verantwortung entziehen. Ich unterscheide fünf Ebenen. Das ist erstens die staatliche Seite mit ihren Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden . . .
. . . Stichwort Heimaufsicht.
Sie ist ihrer Aufsichts- und Kontrollpflicht kaum nachgekommen. Dann sind es die Träger, also vor allem die Kirchen, Diakonie und Caritas. Drittens sind es die einzelnen Heime mit ihren Gremien und viertens die jeweilige Heimleitung. Die letzten drei Ebenen sind maßgeblich verantwortlich für Strukturen, Transparenz, die Auswahl und Weiterbildung des Personals, die Lebensbedingungen der Kinder und Jugendlichen – und für den Umgang mit Gewalt.