Bleibt noch die fünfte Ebene.
Das sind die Erzieher und weiteren Beschäftigten, die in den Heimen arbeiteten. Hier gab es auch skrupellose und systematische Täter und Mitwisser – Mann wie Frau – sowie Gelegenheitsstrukturen, Kontexte und Mechanismen, die dies ermöglichten.
Auch die Erzieher sind in problematischer Zeit groß geworden. Welchen Einfluss hatte der Nationalsozialismus, später die DDR?
Das ist eine interessante Frage, weil es zum Übergang der Heime von der NS-Zeit in die Besatzungszonen und dann die Bundesrepublik kaum Erkenntnisse gibt. Aber so viel weiß man: Die Heimleitungen und Erzieher haben weiter gearbeitet, und mir ist kein Fall bekannt, dass ein Heimleiter oder Erzieher bei der Entnazifizierung entlassen oder angeklagt worden wäre. Viele waren Mitglied in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), waren daher mit der NS-Politik vertraut und sind von deren Härte- und Selektionsvorstellungen geprägt worden. In der ehemaligen DDR kam noch die politisch motivierte Gewalt hinzu. Die Zöglinge sollten im Sinne des SED-Staates indoktriniert werden.
Sie setzen den Beginn der gewaltfreien Erziehung ins Jahr 2000. Doch die Prügelstrafe wurde bereits 1970 verboten. War die Erziehung seit 1970 also nicht gewaltfrei?
Mit Beginn der 70er Jahre setzt ein Prozess ein, in dem sich die gesellschaftliche Wahrnehmung vom Kind langsam verändert. Auf der rechtlichen Ebene hat sich von der UN-Kinderrechtskonvention vor 25 Jahren, der bundesdeutschen Gesetzgebung bis hin zum aktuellen Gesetzentwurf zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen viel getan. Das Recht auf eine gewaltfreie, eine mit Achtung und Respekt verbundene Erziehung ist fixiert. Das Kindeswohl, der Kinderschutz und die Kinderrechte bekommen vor allem ab 2000 einen prominenten Stellenwert; das gilt auch für die Forderung nach Kinderrechten als eigenständige Rechte im Grundgesetz. Dabei ist die Bedeutung von Gesetzen nicht zu unterschätzen, weil sie wesentlich zum Bewusstseinswandel beitragen. Aber weiter gilt: Phänomene psychischer, verbaler, medialer und sexualisierter Gewalt, man denke nur an Mobbing, gibt es nach wie vor.
Bisher haben vergleichsweise wenige Einrichtungen ihre Geschichte aufgearbeitet. Haben die anderen vertuscht?
Es gab einmal ein beschwichtigendes Vokabular, das von Einzeltätern sprach, um die Institution nicht zu gefährden beziehungsweise in einen schlechten Ruf zu bringen. Wurden Fälle bekannt, dann wurden sie zunächst zumeist intern geregelt, vertuscht, verharmlost und verleugnet. Es wurde geschwiegen, weggesehen oder den Kindern wurde nicht geglaubt. Dabei ging es primär um den Schutz der Institution. Es gab in den 50er und 60er Jahren keine sensibilisierte Öffentlichkeit und somit keine Vorstellung von den Taten und deren Ausmaß.
Man weiß kaum etwas über die Motivation von Tätern. Gibt es überhaupt Täterprofile?
Viele Täter und Täterinnen sind zwar identifiziert, aber eine systematische Forschung gibt es noch nicht. Als erste Hinweise kann man unterscheiden: Es gibt den pädophilen Kriminellen, der seine Neigungen auslebt. Dann gibt es den manipulativen Täter, der vermeintlich Nähe anbietet und mit Süßigkeiten verwöhnt, um Abhängigkeit zu missbrauchen. Es gibt des Weiteren sowohl den erzieherisch und religiös motivierten Überzeugungstäter als auch den Gelegenheitstäter, der seine Lust an der Macht systematisch oder punktuell ausagiert. Und es gibt als Letztes den resignierten Täter, der eigentlich mal anders erziehen wollte, dann aber in die Routine von Strafe und Gewalt zurückgefallen ist.
Ließe sich daraus nicht heute schon ein Modell für die Prävention ableiten?
Durch mehr empirisches Wissen über Täter könnten Präventionskonzepte sicher weiter profiliert werden.

Missbrauchsskandal bei der evangelischen Brüdergemeinde

Wissenschaftler
Benno Hafeneger, 1948 geboren, ist ein bundesweit renommierter Jugendforscher. Er ist emeritierter Professor an der Uni Marburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auch in der Geschichte der Jugend. In Korntal verantwortet er die institutionelle Aufarbeitung des Missbrauchsskandals. Er sichtet im Landeskirchlichen Archiv Akten über die Heime in Korntal und Wilhelmsdorf.

 

Vorwurf
Im Mai 2014 machte das ehemalige Korntaler Heimkind Detlev Zander die Vorfälle in den Einrichtungen der Brüdergemeinde publik. Es äußerten sich daraufhin weitere Betroffene, ihre Vorwürfe reichen von Prügel über Medikamentenmissbrauch bis hin zur Vergewaltigung. Aufarbeitungsversuche scheiterten – an der Zerstrittenheit der Betroffenen und der Einflussnahme der Brüdergemeinde.

Sachstand
Die Juristin Brigitte Baums-Stammberger hat bisher mehr als 40 Gespräche mit Betroffenen geführt. Hafeneger wertet die anonymisierten Daten aus, ehe sie an eine Vergabekommission zur Entscheidung über Anerkennungsleistungen gehen, die im Herbst ihre Arbeit aufnimmt. Das Gremium soll unabhängig sein. Aus welchem Personenkreis es sich zusammensetzt, ist noch offen.