Leo Neugebauer hat in Kamerun Hilfsprojekte von Unicef besucht. Für den Weltmeister im Zehnkampf waren es ganz neue Erfahrungen – und besonders emotionale. Wir waren dabei.

Sport: Dirk Preiß (dip)

Es ist drückend heiß in diesem Raum, der von Holzlatten an den Seiten und einem Dach aus Wellblech über den Köpfen begrenzt wird. Ein Schrank, ein abgewetztes Sofa, auf dem rotbraunen Lehmboden springen drei Kätzchen umher. Die zwei kleinen Jungs auf dem Sofa schauen mit neugierigen, aber auch ein wenig ängstlichen Augen auf die Besucher. Normalerweise, sagt Olive Maniok, wären sie jetzt gerade in der Schule. Aber sie sind krank. Das Wasser. Die Keime. Mal wieder. Nun haben die beiden es mit dem Magen.

 

Ein bisschen Durchfall – das klingt nach einer gesundheitlichen Lappalie. Wenn sauberes Trinkwasser zur Verfügung steht, Medikamente greifbar sind, ein Arzt in der Nähe ist. Aber hier in Bikok im Süden der kamerunischen Hauptstadt Yaoundé herrschen keine westeuropäischen Standards. Und zwei kranke Kinder sind immer wieder das i-Tüpfelchen in einem Leben, das per se eine Herausforderung ist. Keine kleine.

„Das alles mit eigenen Augen zu sehen“, sagt Leo Neugebauer, „ist etwas anderes, als nur davon zu hören oder sich Bilder anzuschauen.“

Leo Neugebauer – der Mann ist ein Hüne, stark wie ein Baum, und seit drei Wochen: König der Athleten. In Tokio ist er Zehnkampf-Weltmeister geworden. Kürzlich saß er als Stargast im „Aktuellen Sportstudio“ des ZDF, grinste, lachte, machte Späße, sammelte Sympathiepunkte. Und: verriet sein Lebensmotto. „Leo“, sagte er über sich, „ist immer happy.“ Nun aber wirkt der Weltmeister angefasst, nachdenklich, fast verletzlich. Es sind die Momente, in denen Olive den Besuchern aus Deutschland ihre Geschichte erzählt. „Es ist“, sagt Leo Neugebauer später, „bedrückend.“ Denn die Geschichte geht so:

Vor etwa zwölf Jahren erkrankt der Mann der heute 38-Jährigen, ist seitdem halbseitig gelähmt und arbeitsunfähig. Die Last, die Familie zu ernähren, liegt fortan auf der jungen Frau. Sie ist in der Landwirtschaft tätig, verrichtet harte Arbeit auf dem Feld. Das Paar bekommt Kinder, drei sind es, als Olive wieder schwanger wird.

Sie schuftet weiter, Pausen duldet die Lage der Familie nicht. Dann geschieht, was nicht geschehen sollte: Als die Wehen einsetzen, steht Olive bei der Arbeit auf dem Acker. Genau dort wird das Kind geboren, das sie nun, wenige Monate später, auf dem Arm trägt. Und das nun plötzlich Leo Neugebauer in den Händen hält. „Der Besuch bei dieser Familie“, wird er später sagen, „war das Krasseste.“ Der Leichtathlet ist seit rund einem Jahr Botschafter für Unicef. In den vergangenen Tagen unternahm er die erste Reise für das Kinderhilfswerk. Das Ziel lag auf der Hand: Kamerun, die Heimat von Leo Neugebauers Vater.

Terence Neugebauer kam Ende der 1990-er Jahre nach Deutschland, er stammt aus Bamenda im Nordwesten des Landes, aufgewachsen ist er in der Hauptstadt Yaoundé, wo unter anderem sein Bruder heute noch lebt. Der frühere Fußballer liebt sein Heimatland, sagt aber auch: „Hier als Kind aufzuwachsen ist nicht leicht.“ Das wird auch seinem Sohn, der in Leinfelden-Echterdingen aufgewachsen ist, vor Augen geführt.

Leo Neugebauer in einer Klinik in der kamerunischen Hauptstadt Yaoundé. Foto: StZN

Fast die Hälfte der rund 28 Millionen Einwohner Kameruns sind Kinder, rund zwei Millionen von ihnen benötigten 2024 humanitäre Hilfe. „Das Gesundheitswesen, die Impfquote, der Zugang zu sauberem Wasser, die Unterernährung, die Schulbildung.“ Das sind für Juliette Haenni all die Bereiche, in denen Neugeborene und Heranwachsende in Kamerun dringend weitere Hilfe brauchen. Und die Unicef-Verantwortliche für das zentralafrikanische Land nennt einen weiteren Punkt. Einen Grundsätzlichen: „Wir müssen sicherstellen, dass jedes Kind auch eine Geburtsurkunde hat.“

Den Wert eines solchen Dokuments, das eine amtliche Registrierung beglaubigt, hat auch Leo Neugebauer schnell erkannt. „Wenn du keine Papiere hast“, sagt der Leichtathlet, der für den VfB Stuttgart startet, „bist du hier ein Niemand.“ Und es erlischt die Möglichkeit, schon den ersten Abschluss zum Ende der Primarschule abzulegen. Für jene, die nicht registriert sind, ist die Bildungskarriere dann schon in ganz jungen Jahren beendet.

„93 Prozent der Kinder werden zwar eingeschult“, sagt Juliette Haenni, eine Schweizerin, „aber nur rund 40 Prozent von ihnen beenden auch die Primarschule.“ Auf dem Weg zumindest in die Sekundarstufe gehen dem Bildungssystem weitere Kinder verloren. Vor allem Mädchen.

Sie werden von den Familien aus der Schule geholt, um im Haushalt oder in der Landwirtschaft zu arbeiten. Sie werden zwangsverheiratet. Sexuelle Gewalt und die Dominanz der Männer in den Familien spielen nach wie vor eine Rolle. Unicef will daher nicht nur Hilfe leisten – sondern aufklären. Und junge Menschen in ihrem Selbstwertgefühl bestärken. Auf unterschiedliche Art und Weise. Eine davon: das Programm „Je suis musique“.

Die Energie ist greifbar, hörbar sowieso, als Leo Neugebauer den Klassenraum in Melen, einem Stadtteil von Yaoundé, betritt. Ein Keyboard, Lautsprecher, Mikrofone – dazu: ganz viele Kinderstimmen und klatschende Hände. „Man spürt, dass sie mit ganzem Herzen dabei sind“, sagt Neugebauer – und tanzt bald zum „König der Löwen“-Song „Hakuna Matata“ mit den Kindern. Die nicht nur Spaß haben und Selbstbewusstsein ausstrahlen, sondern in ihren Liedern auch starke Botschaften transportieren.

„C’est interdit!“, rufen sie immer wieder im Refrain und deuten auf ihren Körper. Soll heißen: Das ist mein Körper, keiner darf ihn unerlaubt berühren, keiner darüber verfügen. Das Musikprogramm gibt es an anderer Stelle in der Hauptstadt auch mit Jugendlichen aus einfachen Verhältnissen. Sie kommen von der Straße und haben teils schon gewaltsame Erfahrungen machen müssen, waren gebrochen, nicht mehr in der Schule. Nun wirken sie wieder selbstsicher.

Der Weltmeister lernt noch mehr in den dicht getakteten Tagen. In Bikok geht es um Trinkwasseraufbereitung und getrennte Toiletten für Jungen und Mädchen in den Schulen. Um einen Radiosender, der wichtige Informationen auch in entlegene Gebiete bringt. In Melen sind alte Schiffscontainer zu Schulräumen umgebaut worden, die Kinder werden an moderne Lernmittel herangeführt.

In Nkolndongo streift der Leichtathlet OP-Hemd und Haarnetz über – um Mütter zu besuchen, die ihre Frühchen an sich legen (die Känguru-Methode), um deren Überlebenschancen zu steigern. In der Klinik werden die Frauen und ihre Babys von der Schwangerschaft bis zu Nachsorge betreut – Impfung und Registrierung inklusive. Die Herausforderung: Die Mütter, die teils in den Slums der Stadt leben, müssen überhaupt erst davon erfahren. Und sich dann auch die Fahrt dorthin leisten können.

Die Mentalität der Menschen soll sich ändern

Ein ganz wichtiges Element der Bemühungen von Unicef in Kamerun und anderen Ländern ist es daher, die Menschen vor Ort einzubinden. Nur so kann gelingen, was gemeinhin als „Social and Behavior Chance“ bezeichnet wird. Eine nachhaltige Veränderung der Einstellung vieler Menschen zu verschiedenen wichtigen Themen. Patrick Owona, der in Bikok für Unicef mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, sagt: „Wir müssen junge Menschen darin bestärken, sich an unseren Programmen zu beteiligen. Dann lernen sie, selbst Verantwortung zu übernehmen.“

Das machen sie als „U-Reporter“, die Probleme ihrer Altersgruppe an die Behörden weitergeben, oder in anderen Organisationen, wie der „Adolescent Girls Advisory Group“ – oft motiviert durch eigene traumatische Erlebnisse. Ältere arbeiten unter anderem als Gesundheitshelfer.

In Bikok gibt es jeweils einen oder eine in jeder der 56 zur Region gehörenden Kommunen. Einer davon ist Denise Bombra. Neben rund 1200 anderen Menschen betreut er Olive Maniok und ihre Familie seit langem. Zur Geburt auf dem Feld hat er es nicht geschafft, am Tag danach aber hat er den Transport ins Gesundheitszentrum organisiert – und so sichergestellt, das Mutter und Kind trotz der widrigen Umstände wohlauf sind. Auch registriert ist das Baby bereits. „Ohne ihn würden wir das alles nicht schaffen“, sagt Olive über den Mann, der seine Dienste für 60 Euro im Monat tut – und wird dann noch einmal besonders emotional.

Als sie hört, dass es der Zehnkampf-Weltmeister war, der da gerade ihr Kind in den Händen gehalten hat, mischen sich Überraschung, Verzweiflung und auch Scham. „Das“, sagt Olive und deutet in den kleinen Raum, „ist alles, was wir haben und was ich bieten kann.“

Für diesen einen Moment ist das genug. Es fließen Tränen, auch bei ihrem erkrankten Mann, der mittlerweile dazugekommen ist. Ob sie eine Zukunft für ihre Kinder sieht, wird Olive gefragt. Ihre Antwort kommt nach einigen Sekunden des Nachdenkens. „Ich weiß es nicht“, flüstert sie, „wir haben ja nichts.“

Leo Neugebauer atmet tief durch, blickt berührt in die Runde, verabschiedet sich wenig später. Man sieht ihm an: Diese Erlebnisse muss auch ein Weltmeister erst einmal verarbeiten. Am Abend sagt er: „Ich bin dankbar, dass ich im Sport schon so viel erreicht habe – und dass es mir nun möglich ist, auf diese Weise etwas zurückzugeben.“

Spenden für Kinder in Kamerun

Überweisung
Für die Unicef-Projekte in Kamerun kann direkt gespendet werden. Folgende Daten sind dafür relevant: Bank: SozialBank Köln; IBAN: DE57 3702 0500 0000 3000 00; Stichwort: Kamerun

Online
Die Spendenaktion von Leo Neugebauer ist zudem erreichbar unter www.unicef.de/leo