Für Dieter Kosslick, seit 13 Jahren Direktor der Berlinale, ist jedes seiner Festivals eine Abenteuerreise. Übers Jahr erforscht er Hunderte von neuen Filmen, um daraus sein Programm zu formen. Zufrieden ist er, wenn die Bilder und die Menschen sich verbinden.

Berlin - Manchmal hat Dieter Kosslick Angst. Es ist diese Unruhe, die einen nachts anfällt, so zwischen zwei und fünf, wenn man wach liegt und sich verheddert in irgendwelchen losen Enden. Wieso ruft dieser Lars von Trier nicht zurück? Was, wenn der rote Teppich bei der Eröffnung so leer bleibt wie vor zehn Jahren? Ein Schlachtfest für die Filmkritik! Und warum wollen alle immer nur wissen, ob George Clooney kommt?

 

„Es ist eigentlich die normale Angst, die man hat, wenn man ins Ungewisse reist“, sagt der Direktor der Berlinale. Kosslick kennt dieses Kribbeln im Abenteurerherzen, es erinnert ihn an Zeiten, als er mit dem VW-Bus losfuhr – grobe Richtung Persien – und dann irgendwann in Basra strandete. „Bloß anders als bei so einer Reise weiß ich hier: ich muss in 365 Tagen fertig sein. Es muss klappen. Da hängen 1700 Mitarbeiter dran, zehn Filmreihen, Tausende Akkreditierte. Und die Angst, dass es mal nicht klappen könnte, die ist schon da.“

In solchen Nächten macht Kosslick dann schnell das Licht an und liest, dicke, langatmige Bücher, bei denen man nach ein paar Seiten wieder einschläft. Im Moment gerade „Jerusalem“ von Simon Sebag Montefiore, 871 Seiten, bleischwer. Stand derzeit: Seite 65, Jesus wird gerade verhaftet. Heute Abend werden die 64. Internationalen Filmfestspiele eröffnet. Die Zeit der losen Enden ist vorbei. Der Chef scheint im Moment ganz gut zu schlafen. Dieter Kosslick, 65 Jahre alt, seit 13 Jahren Direktor des größten Publikumsfestivals der Welt, sitzt an diesem Morgen in seinem Eckbüro im vierten Stock eines Hochhauses am Potsdamer Platz. Nusskuchenbrauner Kaschmirpulli, ein Ärmel hochgekrempelt, der andere etwas ausgeleiert, Cordhose, die Beine übergeschlagen, die grauen Haare wie immer meckimäßig unsortiert, freundliches Grinsen.

Die Bären sind fertig. Foto: dpa

Er ordert einen Espresso, aber bitte den aus der Maschine vom Ende des Flurs und hält einer Mitarbeiterin ein freundliches Co-Referat über die Berliner Kaffeerösterei Andraschko und deren bessere Bohnen. Jetzt bloß keinen Mucks machen, denn sonst hätte man wieder keine Antwort auf diese eine Frage: Wie macht man das eigentlich, so ein Festivalprogramm erschaffen, damit es dann nachher aussieht, als sei alles Absicht gewesen?

Stattdessen könnte es leicht passieren, dass man die zur Verfügung stehende halbe Stunde über Kaffee redet – über die richtigen Bohnen oder die Ausbeutung der Kaffeebauern, über einen wichtigen Dokufilm dazu oder über die Tasse Kaffee, die er neulich mit Martin Scorsese oder wem auch immer getrunken hat. Nicht, dass Kosslick ein rettungsloser Kaffeefanatiker wäre. Er ist halt nur wahnsinnig interessiert – an allem und daran, wie alles mit allem zusammenhängt.

Oder ist das die Antwort? Braucht ein Festivalmensch die Fähigkeit, die Welt als einen Ort zu sehen, an dem alles mit allem zusammenhängt? „Ich wollte immer gern Forscher werden“, sagt Dieter Kosslick. „Und im weitesten Sinne hab ich das erreicht – so im Humboldt’schen Sinne, Dinge zu sammeln und Sachen und Menschen miteinander in Verbindung zu bringen. Das ist eigentlich die Arbeit eines Festivals, und ich glaube das kann ich ganz gut.“

Bleierne Bedeutungsglocke

Als Kosslick im Mai 2001 antrat, da lag über der Berlinale noch diese bleierne Bedeutungsglocke. Der neue Chef war einer, der sich im Kino und in der Politik auskannte: Kosslick, geboren in Pforzheim, aufgewachsen in Ispringen war mal Redenschreiber des Hamburger Ersten Bürgermeisters Hans Ulrich Klose. Erst in den 80ern machte er die Filmförderung zu seinem Beruf und wurde als Chef der Filmstiftung NRW einer der wichtigen Macher.

2001 startete er mit der Berlinale in einer Stadt, die mitten in einer Metamorphose war – vom Westberliner Piefke-Goldknopf-Gefühl hin zu einer rot-rot regierten Arm-aber-sexy-Metropole, die auf einmal überall in der Welt toll gefunden wurde – mit ihrem rauen Charme des Halbfertigen, ihren gruseligen Geschichtsbrüchen, ihrer wilden und billigen Partywelt. Und Kosslick machte aus dem etwas steifhalsigen Kulturereignis Berlinale ein lässiges Event mit Geist und Glamour – und mit wirtschaftlicher Bedeutung. Der European Film Market, eine Messe parallel zum Festival, ist zu einem der drei größten in der Welt geworden. Die Berlinale bringt 125 Millionen Euro, Berlin ist mit dreieinhalbtausend Unternehmen in der Filmbranche Spitzenstandort der Industrie.

Die Schlangen vor den Kassen sind lang. Foto: dpa

Kosslick, der Schwabe mit dem peinlich-witzigen Englisch, hatte von Anfang an keine Scheu vor Humor und Leichtigkeit, und er wollte am Marlene-Dietrich-Platz zehn Tage lang die ganz große Show. „Berlinale-Clown“ ätzte die taz mal. Aber statt Staatssekretärsgattinnen in anthrazitfarbenen Hosenanzügen und handgefilzten Colliers gehen inzwischen Diven wie Catherine Deneuve, Uma Thurman und Charlotte Gainsbourg über den roten Teppich. Die Berlinale hat einen Publikumssonntag, sie hat sich wie eine riesige Ausstellung in den Kinos der ganzen Stadt ausgebreitet. 300 000 Karten werden für die zehn Tage verkauft. Kosslick hat neue Reihen erfunden, wie das Kulinarische Kino oder den Talent Campus für junge Filmemacher. Im großen Wettbewerb gab es bessere und schlechtere Jahre, Berlin hat einen schweren Stand gegen Cannes und Venedig, wo Avantgarde und Internationales Kino hinstreben.

Kritik gab es auch immer, sie gehört zum Spiel: weil es zu viel Hollywood ist oder zu wenig; weil zu wenige deutsche Filme zu sehen sind; weil das Festival zu kommerziell ist oder zu intellektuell, zu politisch oder zu undefiniert – je nachdem halt.

Müde vom Dauerschattenboxen

Er glaube, sagt Kosslick grinsend, dass irgendein armer Psychologiestudent über diese Dauerkritik mal eine Doktorarbeit schreiben werde. Es gab Momente in den vergangenen Jahren, da wirkte er nicht so locker, sondern schwach, müde. Als habe er genug von diesem Dauerschattenboxen. 2004 zum Beispiel, in seinem schwärzesten Jahr, als zur Eröffnung alle Big Shots absagten. Und man merkt auch, dass es ihn anfasst, wenn jemand nicht genau hinsieht, und nur den roten Teppich wahrnimmt. Die Berlinale, so Kosslicks Kredo, muss politisch immer auch relevant sein: „Ich will kein abgehobenes Festival machen, wir müssen auch einen Nerv treffen, sonst strahlt da nichts, sonst hat es keine Kraft und ist nur roter Teppich.“

Es sei ihm nicht wurscht, was die Kritiker sagen. „Es ist eine schwierige Sache. Ein Programm zusammenzustellen ist ein weiter Weg. Das dauert nicht ein, das dauert zwei Jahre, da stecken so viele Beziehungen und so viele Verflechtungen drin, da gibt es Freunde und Gegner, und es gibt Zufälle. Aber am Ende ist es wie bei einem Stabhochspringer. Man muss beim Absprung den Punkt treffen, sonst fliegt man unter der Stange durch oder man reißt.“ Monatelang reist Kosslick von Festival zu Festival, schaut Hunderte Filme, trifft unzählige Verleiher, Regisseure und Produzenten. Heute Abend fällt der Startschuss.

Die begehrten Karten erfordern besonderes Engagement. Foto: dpa

Zehn Tage lang werden drei Mal am Tag Galapremieren im Berlinale-Palast gefeiert, dazu die Specials, Retrospektiven, Preisverleihungen, Dinners, Pressekonferenzen. Tausend Möglichkeiten, einen Fehler zu machen. Kosslick nimmt sie auf dem roten Teppich in Empfang – das sieht alles leicht und locker aus, nach alten Freundschaften und unendlich viel Spaß. Aber der Direktor hat Dossiers über jeden Gast: „Ich weiß, wer was nicht gefragt werden will, oder wer Angst vor diesem Moment hat. Ich versuche das dann zu lösen.“

2000 Menschen kommen am Abend zur Eröffnung, die Stars aus Wes Andersons „The Grand Budapest Hotel“. Auf seinem großen Besprechungstisch steht eine edle Hutschachtel, mit einem maßgefertigten Hut aus feuerrotem Filz, ein Geschenk. Er wird ihn nicht benutzen. Eine Stunde vor Premierenbeginn wird Kosslick aus dem Fenster des Hotelzimmers schauen, in dem er während der Berlinale wohnt, den Teppich immer fest im Blick. Und dann wird er sich anziehen: Mantel, Hut, Berlinaleschal, wenn es kalt ist, Thermounterwäsche. Er wird in die Limousine steigen.

Zehn wilde Tage

„Ich konzentriere mich auf den Moment, wenn ich die Tür der Limousine öffne und auf den Teppich trete – denn dann geht es los und gibt kein Zurück. Manchmal weiß ich gar nicht, ob ich nicht extrem lachen muss über mich, wie ich diesen Vorgang jetzt zum 13. Mal absolviere. Aber ich weiß, es ist wichtig. Ich bin konzentriert, ich hab meine Montur an, die mich verwandelt. Und dann geht es los.“

Kosslick sitzt da und lächelt, hinter sich das Festivalplakat mit den Bärenköpfen. Er sieht aus, als freue er sich auf die nächsten zehn wilden Tage. Und wenn man ihn so sieht, diesen Mr. Berlinale, dann denkt man: da sitzt praktisch der Bär persönlich: verschmitzt, locker, irgendwie knuffig.

George Glooney ist schon da – in Wachs. Foto: dpa-Zentralbild

Kosslick wäre nicht Kosslick, wenn er über so eine Beobachtung nicht nonchalant hinweglachen würde und natürlich gleich noch eine Geschichte parat hätte, die irgendwo bei der Bildhauerin des Goldenen Bären beginnt, eine mutwillige Schleife über ein Dinner bei einer kulturbeflissenen Adeligen dreht, zwischenlandet im Kummer eines Stararchitekten über seinen Bauherren und schließlich mitten in der Berlinale aufschlägt. Bei einem Film über ein elfjähriges Asylbewerberkind, den man nach dieser Geschichte unbedingt sehen will. Nach fünf Minuten Zuhören ist einem schwindelig. Und man hat das Gefühl, da hat einen ein Abenteurer mit auf die Reise ins Ungewisse genommen.