Schon die Kleinsten haben einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Eltern müssen sich aber nicht verrückt machen: Totale Gleichbehandlung ist weder möglich noch nötig. Die StZ-Autorin Akiko Lachenmann hat sich bei Experten umgehört.

Reportage: Akiko Lachenmann (alm)

Stuttgart - Der Spross war keine fünf Jahre alt, als er sich unwissentlich auf Artikel eins, Absatz eins, der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ berief, der da lautet: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ „Wieso entscheidet ihr ganz allein, wohin wir in den Urlaub fahren?“, lautete sein Vorwurf: „Voll ungerecht.“ Auch das Prinzip der Gleichverteilung muss er früh verinnerlicht haben, vermutlich seitdem er zählen kann. Immer wenn ein Besucher eine Packung Gummibärchen mitbringt, teilt er diese unter strikter Berücksichtigung der Farben zwischen sich und der Schwester auf.

 

Man fragt sich, woher der ausgeprägte Sinn für Gerechtigkeit rührt. Ist er angeboren? Ist er anerzogen? Nach Ansicht des jüngst verstorbenen Erziehungswissenschaftlers Wolfgang Bergmann leiden viele Kinder heutzutage unter einem regelrechten „Gerechtigkeitswahn“, den er den Eltern in die Schuhe schiebt. In seinen Büchern beschreibt er diesen als eine „gewaltsam von außen aufgepresste“ Ordnung, auf die Kinder von selbst gar nicht kommen würden. Man denke nur an den Sandkastenklassiker: Zwei Kinder kabbeln sich um ein Förmchen. Der Erziehungsberechtigte greift ein und beschließt, jeder solle abwechselnd fünf Minuten mit dem Förmchen spielen. Nachteil: der Erziehungsberechtigte muss die Uhr im Auge behalten. Und er wird wahrscheinlich beim nächsten Konflikt erneut als richterliche Instanz hinzugezogen.

Schon Einjährige können 90 Prozent ihrer Konflikte selbst lösen

Dabei bringen Kinder Studien zufolge durchaus einen natürlichen Gerechtigkeitssinn mit: Schon im ersten Lebensjahr sind sie in der Lage, 90 Prozent ihrer Konflikte selbst zu lösen. Vielleicht mit etwas Schubsen, vielleicht mit Sandwerfen, was natürlich nicht unbedingt dem Gerechtigkeitsverständnis der Erwachsenen entspricht. Aber dafür erleben sie sich als Individuen, die ohne die regulierende Hand der Eltern klarkommen. Erst diese führt nach Bergmanns Ansicht zu der beobachteten Pedanterie, die oft mit einem ausgeprägten Geschwisterneid einhergeht und sich im weiteren Lebenslauf womöglich zu einer rücksichtslosen Anspruchshaltung entwickelt, wie man sie in der „Ellbogengesellschaft“ beklagt.

Doch wo endet das Laisser-faire? Wo beginnt ein gesunder Umgang mit dem Thema Gerechtigkeit? Experten sind sich darin einig, dass sich Tugenden wie Teilen, Rücksicht oder Mitgefühl von selbst entwickeln, wenn man nur auf jedes Kind individuell – und nicht gleich – eingeht. „Schließlich ist jedes Kind anders“, sagt die Stuttgarter Familientherapeutin Andrea Kubiak. So sollte beispielsweise das ältere Kind ruhig länger aufbleiben dürfen, aber auch mehr im Haushalt helfen. Auf diese Weise hätten die Kinder weniger Gelegenheit, sich miteinander zu vergleichen. Allerdings, warnt Kubiak zugleich, sollten sich Eltern bei der Befriedigung der individuellen Bedürfnisse auch nicht verrückt machen. Wenn sie zwischen Babyschwimmen und Fußballtraining hin und her hetzen und mit jedem Kind täglich die Garderobe ausdiskutieren, droht rasch Überforderung. „Es reicht, wenn jedes Kind eine eigene, kleine Nische bekommt und es das Gefühl hat, gehört zu werden“, sagt Kubiak. Um dieses Gehörtwerden sicherzustellen, empfiehlt sie beispielsweise die Familienkonferenz am Wochenende, ein sinnvolles Instrument, sobald Kinder sich artikulieren können. Eine andere Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen, ist der sogenannte Friedensteppich, den jeder zu jeder Zeit ausrollen darf.

Kann man alle Kinder immer gleich lieb haben?

Trotz der Vielfalt an Ratschlägen und Ratgebern quälen sich viele Eltern mit der Frage, ob ihre Erziehung gerecht ist. Sie plagt zum Beispiel ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihrem zweiten Kind, dem es egal sein dürfte, die alten Strampler des Erstgeborenen anziehen. Hätte es nicht ein Recht auf neue Kleider? Und ist es moralisch vertretbar, das zweite Kind früher abzustillen als das erste? Auch das Eingeständnis, einem Kind näherzustehen als dem anderen, treibt Müttern und Vätern die Schamröte ins Gesicht. Andrea Kubiak empfiehlt, diese Gefühle zuzulassen und sich bewusstzumachen, dass das Leben aus Phasen besteht. „In der nächsten Phase kann sich die Gefühlslage umkehren“, sagt sie. So folgt auf eine enge Mutter-Tochter-Beziehung in der Pubertät erfahrungsgemäß die Ablösung, wenn auf einmal die Tochter gegen die Mutter aufbegehrt.

Wolfgang Bergmann bezeichnete das verzweifelte Streben nach Gerechtigkeit als „typisch deutsches Phänomen“. Er stellte fest, dass in keiner anderen Erziehungskultur das Thema Gerechtigkeit so hoch gehängt wird. Die teilweise antiquierten Vorstellungen von Gerechtigkeit werden von Generation zu Generation übertragen. Das beobachtet auch die Familientherapeutin Kubiak. „Oft stellt sich heraus, dass nicht das Kind Probleme bereitet, sondern die Biografie der Eltern“, erzählt sie. Wer ein Leben lang dazu angehalten wurde, jede Handlung moralisch zu hinterfragen, kann diesen Anspruch später nur schwer ablegen.

Kinder müssen lernen, dass es auch ungerecht zugehen kann

Dabei sollten Eltern ihren Kindern vorleben, dass man auch einmal Fehler machen darf. „Wichtig ist, dass die Familie darüber spricht“, betont Andrea Kubiak. So lernt das Kind zweierlei: Ungerechtigkeit zu ertragen und selbst nicht perfekt sein zu müssen. Eine Erkenntnis, die für ein gesundes Selbstvertrauen wesentlich ist. „Kinder werden heute schon sehr früh dem Leistungsdruck in der Gesellschaft ausgesetzt“, hat Kubiak beobachtet. Strebten Eltern selbst nach Perfektionismus, seien Versagensängste programmiert. „Eltern können dem leicht vorbeugen, indem sie mit sich selbst nicht so streng sind.“