Der Privatsender Sat 1 erprobt gerade neue Formate für den Quotenkampf. Ganz neu am Start: „Annica Hansen“, ein Krawall-Talk mit Laienschauspielern.

München - Warum sich seit voriger Woche alle so aufregen, von „Bild“ bis Facebook? Sat-1-Moderatorin Annica Hansen kann es gar nicht nachvollziehen: „Bei uns wird mehr auf die Spitze getrieben als bei anderen Talks. Es ist von allem eine Schippe mehr. Das ist ungewohnt – aber in Amerika gang und gäbe.“

 

Die Sendung, um die es geht, heißt so wie die Moderatorin. Mit „Annica Hansen – Der Talk“ testet der Bällchensender einige Jahre nach Ende des Talkshow-Booms im privaten Nachmittagsfernsehen wieder einen dieser Debattierklubs, die einst den Begriff des Unterschichtenfernsehens geprägt haben. Hauptaufgabe der Gastgeberin ist, im verbalen Ringkampf mit dem unprominenten Personal die Chefin zu bleiben. Und auf den ersten flüchtigen Blick geht es dort nicht wesentlich anders zu als bei Hansens Kollegin Britt Hagedorn. Die ist im Anschluss an „Annica Hansen“ um 13 Uhr als letzte Mohikanerin der Talkpioniere auf Sendung, und dies immerhin im zwölften Jahr.

Auch bei „Annica Hansen“ wird gepöbelt, bis die Galle platzt. Da werden Ultraschallbilder dem künftigen Opa hingeschleudert, Töchter bekennen sich zum Berufswunsch Pornostar, Mütter ringen mit nymphomanen Großmüttern, Söhne prahlen mit ihrer Potenz, Sicherheitsleute befördern prügelnde Liebhaber aus dem Studio. Höchst dramatisch. Aber harmlos.

Boulevardzeitungen und Internet schreien: Protest!

Denn all die „kuriosen Liebesgeschichten, unfassbaren Familientragödien und skurrilen Streitfälle“ (so Sat 1), die täglich um 12 Uhr verhandelt werden, sind, anders als bei „Britt“, frei erfunden und werden von Laien dargestellt. „Annica Hansen“ ist, wie es unter Fachleuten heißt, gescriptet. Die Redaktion denkt sich das Drama aus, die dazu passend gecasteten Gäste führen es auf. Nur die Gastgeberin, versichert Annica Hansen, ist echt: „Ich bin frei und reagiere spontan auf das, was da passiert. Wenn ein Gast frech ist, fliegt er raus. Wenn einer weint, kriegt er ein Taschentuch.“

Im Abspann zur Show weist der Sender darauf hin, dass es sich quasi um Improvisationstheater handelt, das die Constantin Entertainment in München-Unterföhring fertigt. Trotzdem war die Empörung schon groß, noch bevor der Hansen-Talk mit dem Thema „Marmor, Stein und Eisen bricht – Du zerstörst unsere Liebe nicht“ überhaupt losging. „Fake-Talk“ schimpfte der Boulevard, „Zuschauer werden verarscht“, „Körperverletzung“ die Kritiker auf der Sat-1-Homepage.

Ob sie sich für ihren Talk geniert? Tut sie nicht, sagt Annica Hansen. Man dürfe ihn „nicht zu ernst nehmen“, solle sich einfach berieseln lassen. Die Moderatorin sieht sogar Bedarf an dieser Sorte Berieselung: „Da, wo es heftig, laut und bunt ist, gucken die Leute hin. Sonst würde ,Britt‘ nicht nach wie vor so gut laufen.“

Richtig schlimm sind vor allem die simplen Ratschläge

„Annica Hansen“ läuft quotenmäßig ungefähr so gut wie „Britt“, um die zehn Prozent Marktanteil – trotz oder gerade wegen der Publikumsempörung. Die setzt allerdings an der falschen Stelle an. Dass beim Hansen-Talk überaus fantasiereiche Autoren am Werk sind, ist nicht schlimm. Bei keinem der bisher üblichen Nachmittagstalks setzt sich ein Gast einfach hin, so wie er ist. Sein mutmaßlich echtes Schicksal oder Problem, das sich meist im Intimbereich befindet, wird redaktionell stets in Richtung Remmidemmi getrimmt. TV-Dominas wie Britt treiben es dann auf die Spitze mit Detailfragen wie: „Nicht der Bringer im Bett – was heißt das genau?“

Nein, schlimm an „Annica Hansen“ ist, dass, auch wenn nur so getan wird, hier eine Art von Rederei reanimiert wird, die man eigentlich auf dem Weg zum Fernsehfriedhof wähnte. Enthemmte Kommunikation hat zur Mittagszeit, wenn auch Kinder und Jugendliche zuschauen, nichts im Fernsehen verloren. Abgesehen davon ist der Nutzwert der am Ende jeder Show dargebotenen Konfliktlösung in Lichtgeschwindigkeit sehr überschaubar. Oder soll man etwa aus Hansens Freitagssendung zum Thema „Schön ist es, auf der Welt zu sein“ jetzt schließen: Wer sich enthaart, bei dem klappt es wieder besser im Bett?

Diese Woche gibt es weitere fünf Folgen „Annica Hansen – Der Talk“. Danach probiert Sat 1 das ganz ähnliche Format „Erich-Marcus Thomas“ aus. Wie und ob es im Herbst weitergeht, wird der Sender dann entscheiden. Eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera.