Mittelständler aus Künzelsau Wie Ziehl-Abegg auf Tiktok um Fachkräfte wirbt

Rainer Grill, seine Tochter Sophie Grill (links), die auch bei Ziehl-Abegg arbeitet, und Rebecca Amlung aus dem Bereich E-Learning betreuen den Tiktok-Kanal des Mittelständlers. Foto: Ziehl-Abegg

Lustige Videoclips gegen den Fachkräftemangel? Der Ventilatorenhersteller Ziehl-Abegg zeigt, wie es gehen kann: mit viel Witz und einem selbstironischen „Chef“.

Wirtschaft: Imelda Flaig (imf)

Die klassische Personalbeschaffung, dass ein Unternehmen eine Stelle ausschreibt und unzählige Bewerbungen bekommt, funktioniert nicht mehr. Diese Erfahrung hat auch Ziehl-Abegg aus Künzelsau (Hohenlohekreis) gemacht. Der Mittelständler fertigt Motoren und Ventilatoren, die kaum einer kennt, weil sie beispielsweise in Computertomografen, Aufzügen oder Reinraumanlagen verbaut werden. Wie kommt man also an Nachwuchs und Fachkräfte, wenn das eigene Produkt bei jungen Leuten so gut wie unbekannt ist?

 

Warum nicht mal was Neues ausprobieren? Die Idee dazu kam Rainer Grill, als er 2019 etwas über eine neue chinesische Videoplattform namens Tiktok gelesen hatte. Im Rumänien-Urlaub hat sie Grill, der die Öffentlichkeitsarbeit bei Ziehl-Abegg verantwortet, privat ausprobiert. Er filmte Bären und stellte das Video online: Es wurde mehr als 800-mal geklickt, obwohl er keine Follower hatte. „Eine coole App“, dachte er sich. So was müsste sich doch auch für die Firma umsetzen lassen. Wochen später sprach er mit einer Kollegin, die kannte die App auch. Gemeinsam wollten sie einen „Versuchsballon“ starten.

Die ersten Videos nach Feierabend als Versuchsballon

Vom Vorstand gab es grünes Licht, dann wurden die ersten Videos produziert – zu dritt, erst mal nach Feierabend, um es auszuprobieren, wie Grill rückblickend sagt. Das ist gut zweieinhalb Jahre her. Mittlerweile dreht das Team um Rainer Grill fünf Videos pro Woche – während der Arbeitszeit. Die kommen gut an. Dem Tiktok-Account von Ziehl-Abegg folgen mehr als 100 000 Menschen. Die Aufrufe übersteigen die 70-Millionen-Marke, die Likes liegen bei mehr als 2,8 Millionen.

Die eher mittelstandsuntypische Personalsuche des Mittelständlers, der im Südwesten rund 100 offene Stellen hat, zeigt Erfolg. „Wir haben schon Leute eingestellt, die sich aufgrund von Tiktok beworben haben“, sagt Grill – darunter eine 24-Jährige, die jetzt im Bereich Zoll & Außenwirtschaft arbeitet, einen ITler, zwei angehende Industriekaufleute oder einen Fachinformatiker. Man erreiche damit Menschen, die sonst kaum mit Ziehl-Abegg in Berührung gekommen wären. Ziehl-Abegg beschäftigt rund 2800 der weltweit etwa 5000 Mitarbeiter im Hohenlohekreis.

Wenn der Chef die vollaufgedrehte Musik abbekommt

Die Tiktok-Videos, bei denen es meist um witzige Szenen im Büroumfeld geht, kommen vor allem bei Studierenden und Berufsanfängern gut an. Eines der meistgeklickten Videos mit 1,8 Millionen Views, also Abrufen, ist „der Chef“, der die Krise kriegt, weil er unwissentlich einen Zwilling eingestellt hat, oder ein anderes mit 1,3 Millionen Views, bei dem „der Chef“ ins Auto steigt, das zuvor der Azubi gefahren hat, und vor Schreck fast erstarrt, weil die Musik noch voll aufgedreht ist, als er den Zündschlüssel umdreht.

@ziehl_abegg Wer ist auch so erschrocken? 🤭➡️ #ziehlabegg #bossprank #placetobe #officelifeclassics ♬ sonido original - Rudy Alexis Haro

Die Themen sind vielfältig – vom Generationenkonflikt bis zur Selbstironie. Gedreht wird ohne lange Abstimmungsprozesse, ohne Vorgaben und ohne üppiges Marketingbudget, oftmals wird in den Clips auch Mittfünfziger Grill auf die Schippe genommen.

@ziehl_abegg Bei 100k Follower soll unser CEO tanzen 🕺🏻➡️ #ziehlabegg #officelifeclassics #karrieretipps #10von10 ♬ Dazaiiiii - ORKHON

Authentisch sein sei entscheidend, Werbung funktioniere nicht. „Wir haben unsere Lektion gelernt. Ein Video mit einem Firmenlogo oder Produkt zerschießt die Reichweite“, sagt Grill.

@ziehl_abegg Der Chef 👔 kriegt die Krise 😂🙋🏼‍♀️🙋🏼‍♀️ #ziehlabegg #officelifeclassics #twins #dayinmylife ♬ original sound - THANK YOU FOR 14K❤️

Anfangs musste er sich Kommentare von Führungskräften wie „das ist zum Fremdschämen“ anhören. Statt solcher Sprüche gibt es längst intern und extern Anerkennung und jede Menge positiver Kommentare unter den Videos. „Was seid ihr bitte für ein geiler Verein? Will bei euch arbeiten“, „ sehr sympathisch, hier muss ich mich bewerben“ oder „Habt ihr zufällig Vakanzen im Bereich Finance/Controlling?“ ist da beispielsweise zu lesen. Auch auf Studienmessen, auf denen Ziehl-Abegg Flagge zeigt, ist des Öfteren zu hören: „Ach, ihr seid die von Tiktok.“

„Leute dort abholen, wo sie sind“

Aufs Image und die Bekanntheit des Unternehmens haben die Videos laut Grill einen positiven Einfluss, auch die Zugriffe auf den eigenen Karriereseiten haben sich erhöht. Drei Viertel der Nutzer des Tiktok-Kanals von Ziehl-Abegg seien über 20 Jahre alt, sagt Grill.

„Man muss versuchen, die Leute dort abzuholen, wo sie sind“, sagt Thomas Schuster, Wirtschaftsprofessor an der Dualen Hochschule Mannheim. Und das sei neuerdings auch auf Tiktok. Soziale Netzwerke spielten bei der Suche nach Fachkräften eine immer größere Rolle. Unternehmen, die das nicht beherzigten, hätten schlechtere Karten.

Dass das Recruiting auf sozialen Netzwerken immer wichtiger wird, kann Adél Holdampf-Wendel, Arbeitsmarktexpertin beim Digitalverband Bitkom, mit Zahlen untermauern. Jedes fünfte Unternehmen (21 Prozent) setzt derzeit bei der Personalsuche auf soziale Netzwerke, wie eine repräsentative Umfrage bei gut 850 Unternehmen ergeben hat. Vor einem Jahr waren es erst zwölf Prozent. Der Großteil der Unternehmen setzt dabei auf berufliche Netzwerke wie Xing und Linked-In, jedes zweite Unternehmen nutzt zur Personalsuche auch Facebook, Twitter, Instagram oder Youtube. Vor allem in größeren Unternehmen gehöre das „Active Sourcing“ heute zum Standard, sagt die Expertin.

Auch Konzerne wie Mercedes und SAP nutzen Tiktok

Konzerne wie die Telekom, Autobauer Mercedes, Versandhändler Otto oder Softwareriese SAP beispielsweise sind zudem auch auf Tiktok unterwegs – meist mit einer bunten Mischung aus unterhaltsamen und informativen Videoclips. Es gehe vor allem um Reichweite und Aufmerksamkeit, doch „der Kanal dient auch dem Zweck, neue Talente anzuziehen, indem wir der Community authentische Einblick in die SAP-Kultur geben“, heißt es beispielsweise bei dem Softwarekonzern.

Auch die Zukunft der Stellensuche liege in den sozialen Netzwerken, sagt Experte Schuster. Unternehmen müssten im Netz sichtbar werden. Allein die Internetseite reiche beim Kampf um Talente nicht mehr.

Jüngere Generation auf Tiktok


Nutzer
Weltweit hat Tiktok etwa eine Milliarde Nutzer, in Deutschland rund 19,5 Millionen. Die Videoplattform ist vor allem bei der jüngeren Generation beliebt. Laut Statista gaben rund 60 Prozent der 20- bis 29-Jährigen bei einer Umfrage an, Tiktok zu nutzen. Der Großteil der Tiktok-Nutzer in Deutschland ist 16 bis 29 Jahre alt.

Verweildauer
Im Schnitt verbringen die Nutzer täglich bis zu 50 Minuten mit der App. 90 Prozent der Nutzer verwenden die App täglich.

Kritik
Viele sehen in der politischen Nähe des Tiktok-Mutterkonzerns Bytedance zur kommunistischen Staatsführung in Peking ein Problem. Es gibt immer wieder Kritik. In den USA soll die App künftig von Diensthandys von US-Abgeordneten verschwinden. Begründet wird das Verbot mit Sicherheitsbedenken.

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