Die klassische Sprechstunde war gestern: Bei einem einmaligen Pilotprojekt können sich Kassenpatienten in Stuttgart und im Landkreis Tuttlingen jetzt vom Arzt per Telefon, online oder über eine App beraten und behandeln lassen.

Lokales: Mathias Bury (ury)

Stuttgart - Ärztemangel, überfüllte Praxen, überlaufende Notaufnahmen in Kliniken, aber auch der Trend, dass sich immer mehr Bürger im Internet über medizinische Fragen informieren: Die Gründe sind vielfältig, warum sich die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) zu dem neuartigen und bundesweit einmaligen Modellversuch zur Telemedizin mit dem Namen „Docdirekt“ entschlossen hat. Vom kommenden Montag, 16. April, an können sich gesetzlich versicherte Patienten in den beiden Testgebieten im Stadtgebiet Stuttgart und im Landkreis Tuttlingen am Telefon (07 11/965 897 00), online an ihrem Computer und Smartphone (docdirekt.de) oder per App beraten und auch behandeln lassen.

 

Mit dem Pilotprojekt wolle man „einen großen Schritt in Richtung Digitalisierung vorankommen und andere Möglichkeiten der Interaktion zwischen Arzt und Patienten anbieten“, sagte Norbert Metke, der Vorstandsvorsitzender der KVBW. „Online-Sprechstunden sind seit vielen Jahren in anderen Ländern etabliert, nur Deutschland hinkt hier hinterher“, machte Metke deutlich. Etwa in der Schweiz oder in Dänemark sei dies seit Jahren gang und gäbe. Studien zeigten auch, dass sich Patienten heute eine „telemedizinische Ergänzung“ zum klassischen Verhältnis von Arzt und Patient wünschten. Auch in Deutschland sei es gesellschaftliche Realität, so Metke, dass sich jedes Jahr etwa 40 Millionen Menschen im Internet über medizinische Fragen informieren, etwa zwei Drittel chronisch kranke Menschen, ein Drittel sei akut erkrankt.

Deshalb mache die Ärzteschaft in Kooperation mit den gesetzlichen Kassen selbst ein Angebot, das die nötige Qualität garantiere, bei dem Daten nicht kommerziell verwendet würden, das nicht wie bei Dritten von Gewinnabsichten geprägt sei und das auch unter behördlicher Aufsicht stehe.

Es müsse Kassenpatienten sein

Von Montag an werden in den Testgebieten werktags von 9 bis 19 Uhr insgesamt rund 30 Telemediziner die Anliegen von Patienten entgegennehmen. Es handelt sich um niedergelassene Ärzte aus ganz Baden-Württemberg, die für das Projekt eine zusätzliche Schulung erhalten haben und die sich neben ihrer Praxisarbeit zu gewissen Zeiten beteiligen. Koordiniert werden die Kontakte von einer Gruppe medizinischer Fachangestellter bei der KV, welche die Personalien der Patienten aufnehmen, die Krankheitssymptome und die Dringlichkeit des Anrufs erfassen. Falls die geschilderten Symptome auf einen lebensbedrohlichen Notfall hindeuten, werde der Anruf an die Rettungsleitstelle weitergeleitet.

Das Angebot richtet sich nur an Patienten aus den Testgebieten, die überdies bei einer gesetzlichen Kasse versichert und die „akut erkrankt sind und ihren behandelnden Haus- oder Facharzt nicht erreichen“, macht Johannes Fechner, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der KVBW, deutlich. Ziel sei, dass ein Anrufer „innerhalb von 30 bis 40 Minuten einen Rückruf vom Arzt erhält“. Fechner und Metke lobten die „sehr mutige“ Landesärztekammer, die das Pilotprojekt durch die Aufhebung des Fernbehandlungsverbotes erst möglich gemacht habe. Im Idealfall könne der Telearzt den Patienten sogar abschließende beraten.

Handelt es sich aber um ein schwerwiegenderes medizinisches Problem, das in einer Arztpraxis abgeklärt werden muss, kann der Patient an eine kooperierende Haus- oder Facharztpraxis weiterverwiesen werden. In Stuttgart seien dies rund 30 Praxen unterschiedlicher Fachrichtungen, so Fechner. Bei den Teleärzten handle es sich um Hausärzte mit Schwerpunkt innere Medizin sowie um Kinderärzte.

Notfallambulanzen sollen entlastet werden

In nicht wenigen Fällen, so die Erwartung, wird der Telearzt den Patienten aber abschließend beraten können. In Ländern, in welchen Telemedizin seit längerem praktiziert wird, liegt diese Quote bei 30 bis 50 Prozent. Allerdings ist es bei dem Modellversuch noch nicht möglich, dass der Telearzt Rezepte ausstellt. Dafür müsse erst die gesetzliche Voraussetzung geschaffen werden, sagte Fechner. Derzeit sei dafür noch der persönliche Kontakt erforderlich. Der stellvertretende KV-Vorsitzende setzt darauf, dass dies im Laufe des auf zwei Jahre angesetzten Modellversuchs geändert wird.

Die Frage ist, welche Resonanz das neue Angebot findet. Fechner rechnet zumindest in der Anfangszeit mit „30 bis 40 Anrufen am Tag“. Ein Maßstab sind die Zuläufe zu den Notfallambulanzen der Stuttgarter Krankenhäusern, die über eine wachsende Zahl von Patienten klagen, die dort nicht hingehörten. Dies seien „mehr als 60 Prozent“, so Metke. Docdirekt soll deshalb auch „ein Filter für die Notfallpraxen“ sein, erklärte Fechner. Diese wie auch viele überlastete Arztpraxen sollten von „Bagatellfällen“ entlastet werden.