Das wird ein Riesen-Tanzspektakel: Zweieinhalb Wochen lang bringt das Colours-Festival 21 Produktionen ins Theaterhaus nach Stuttgart. Mit „Mega Israel“ wurde der Reigen eröffnet – und sogar das Publikum tanzte mit.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Stuttgart - Stuttgart hat ein großartiges Tanzpublikum. „Die Stadt ist tanzergriffen“ – so formuliert es Oberbürgermeister Fritz Kuhn in seiner kurzen und deshalb sehr beklatschten Ansprache zur Eröffnung des Colours-Tanzfestivals Nummer zwei am Donnerstagabend im Theaterhaus. Wie Recht er damit hat, und zwar im wortwörtlichen Sinn, das zeigt sich ganz am Schluss des dreistündigen Abends „Mega Israel“ von Gauthier Dance.

 

Der präsentiert sich als Powerpaket: extrem laut, voller Kontraste, enorm bewegungsreich. Eric Gauthier, Kompaniechef, und Meinrad Huber, künstlerischer Leiter des Festivals, haben mit dem Präfix im Titel nicht zu hoch gegriffen. Dieser Meinung war wohl auch der Urheber des ersten Eintrags im Gästebuch des zweieinhalbwöchigen, mit 21 Produktionen bestückten Tanzspektakels, für das bereits neunzig Prozent der Karten verkauft sind: „Total mega, oh mega!“.

Ein Abend für den Gaga-Großmeister

Tanz, ganz groß also, aber, und darüber darf man durchaus staunen, aus einem kleinen Land: Mit Ohad Naharins jugendlich-frischen und vereinnahmenden „Kamuyot“ hatte Eric Gauthier die erste Colours-Ausgabe 2015 eröffnet. Daran knüpft er nun an: Der Bewegungshymne „Minus 16“ von Naharin, dem Choreografie-Guru des israelischen Tanzes und Leiter der weltberühmten Batsheva Dance Company, schickt er Erfolgsarbeiten von zwei Naharin-Schülern voraus. Sharon Eyal wie auch Hofesh Shechter sind ehemalige Batsheva-Tänzer, die die von Naharin entwickelte Tanzsprache Gaga studierten und inzwischen als Choreografen mit eigenen Kompanien weltweit gefragt sind, womit der Abend auch zu einer Hommage an den anwesenden Gaga-Großmeister wurde.

Die aus diesem Gaga-Vokabular resultierende außerordentliche Wucht, Energie und Körperlichkeit, die den israelischen Tanz zu einer Marke hat werden lassen, ist bei Hofesh Shechters „Uprising“, 2006 in London uraufgeführt, vom ersten Moment an greifbar. Mindestens ebenso direkt in den Bauch zielt der Sound. Shechter, nicht nur Choreograf, sondern auch Profi-Schlagzeuger, hat das Techno-Gehämmer, das sich zwischendurch zum maschinengewehrsalvenartigen akustischen Dauerbeschuss steigert, wie häufig bei seinen Arbeiten, selbst komponiert.

Eine wilde Schlägerei

Der in London tätige Israeli lässt die sieben Tänzer in hellen Cargo-Hosen und erdtonfarbenen Oversize-Shirts leise statische Momente mit wahren Bewegungsexplosionen variieren. Aus einer Geste heraus, einer auf die Brust des Gegenübers gelegten Hand, beginnt ein Zweikampf, der erst in einem Würgegriff zu enden droht, dann aber noch zu einer zärtlichen Umarmung findet. Aus einem Schulterklopfen, das im Kreis an den nächsten weitergereicht wird, entwickelt sich eine wilde Schlägerei, und zwischendurch fegen die Tänzer in hockender Haltung wie eine Horde Tiere über die Bühne.

Gemeinschaft und Ausgrenzung, Zärtlichkeit und Aggression, Unterwerfung und Befreiung: Es geht in „Uprising“ um Bünde, Kameradenrituale, Männergeschichten. Shechter findet kluge Bilder, um die Spannungen zwischen Individuum und Gruppe, zwischen Animalischem und Menschlichen zu transportieren, auch wenn er dabei zu Wiederholungen neigt.

Amazonen und Killerschweine

Das komplementäre Gegenstück zu diesem virilen, von Nebel- und Lichtwänden dramatisierten Testosteron-Tanz folgt auf den Fuß: In „Killer Pig“ - gezeigt wird eine eigens für Stuttgart abgewandelte Fassung des 2009 in Oslo uraufgeführten Stücks - lassen Eyal und ihr Partner Gai Behar sechs Amazonen aufmarschieren. Wobei: Zu Beginn tritt das Frauen- Sextett vor allem auf der Stelle, um dann zwischen roboterhaften Bewegungen auf Zehenspitzen und weit ausgreifenden Dehnungen von Rumpf und Gliedmaßen zu wechseln, dann werden Ballett-Floskeln genüsslich zerhackt, später glaubt man Spuren von Stammestänzen zu entdecken.

Kraftakt mit Handbremse

Bei der Musik greift das Künstler-Paar in die gleiche Schublade wie Shechter und unterlegt das Stück mit laut wummernden Elektro-Beats von Ori Lichtik. Schweinwerfer illuminieren die androgynen, von hellen Trikots überzogenen Körper zu Skulpturen - eine spacige Show ist das, die das Klischee von weiblicher Tanzästhetik dekonstruiert. Der Tanz ist intensiv, dennoch wird wie mit angezogener Handbremse agiert – eine verstörende Kombination, wobei „Killer Pig“ vor allem durch die Soundkulisse anstrengt. Auch wenn die körperliche Präzision bewundernswert ist, die Tänzerinnen einen wahren Kraftakt absolvieren: Ein Funke springt von diesen unterkühlten und ohne Höhepunkt auskommenden Tanzexerzitien nicht über.

Dies gelingt dem letzten Stück der Israel-Trilogie, und das beginnt schon in der Pause. Verloren steht Luke Prunty in schwarzem Anzug auf der Bühne und versenkt sich selig und mit unglaublichem Erfindungsreichtum im Kleinen wie im Großen in die gedämpften Cha-Cha-Cha-Rhythmen. Ein bezirzender Pausenfüller – wer erst spät wieder in den Saal kommt, hat Grund sich zu ärgern.

Einer platscht vom Stuhl

Dann geht das Licht im Saal aus, und Prunty bekommt endlich Gesellschaft. „Minus 16“, bereits 1999 uraufgeführt, vereint Auszüge aus mehreren Choreografien Naharins und ist zum Klassiker geworden, der immer wieder aufs Neue mitreißt. Die zu einem geweiteten Stuhlhalbkreis formierten Tänzer bewegen sich perfekt synchron, lassen den Tanz nach La-Ola-Art durch die Reihe fließen, nur den Letzten erreicht die Woge nicht mehr, weshalb er ein ums andere Mal vom Stuhl auf den Boden platscht. Dabei brüllen sie die Verse des Kinderliedes „Echad Mi Judea“ aus der Passach-Erzählung wie Krieger in die Welt, schließlich schleudern sie Kleider, Schuhe und womöglich all den religiösen Ballast in ihre Mitte.

Der von dunklen Percussion-Schlägen vorwärts getriebenen Raserei folgt ein entrückter, puristischer, weicher Pas de deux zu Vivaldis „Stabat Mater“. Es sind diese Brüche, die den Reiz des Stücks ausmachen, es ist aber auch sein nicht enden wollender Bewegungsfuror. So könnte man ewig dabei zuschauen, wie die Tänzer immer wieder neu ansetzen, zappeln, sich winden, ihre Glieder verdrehen, sich hinwerfen, wieder hochschnellen.

Das Publikum macht sich lang

Beim grandiosen Finale verneigen sich Naharin und Gauthier Dance schließlich auf anrührende und begeisternde Art vor ihrem Publikum: Sie überlassen ihm die Show. Dazu schnappen sich die sechzehn Tänzerinnen und Tänzer je eine Zuschauerin aus den Rängen und führen sie zum Tanz auf die Bühne. Die überrumpelten Damen machen unerschrocken und tanzverzückt mit, sie schwingen die Hüften, wiegen sich im Cha-Cha-Cha, eine macht sich sogar wie die Tänzer auf dem Boden lang, streckt alle Viere von sich. Ja, es ist ganz offenbar: Stuttgart hat ein großartiges Tanzpublikum.

Weitere Vorstellungen: Theaterhaus, 8. Juli, 20.15 Uhr, 9. Juli, 19.30 Uhr http://www.stuttgarter-zeitung.de/thema/Gauthier_Dance