Marlis Albrecht zeichnet schon als Sechsjährige Mädchenköpfe. Heute malt sie hauptsächlich Menschen, weil deren Gesichtsausdruck von der Wirklichkeit hinter der Fassade erzähle – und kann von der Kunst ihre Familie ernähren

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Möglingen - Gesucht hatte Marlis Albrecht die ganze Zeit. Die Malerin war unzufrieden. Sie hatte ihr Material noch nicht gefunden. Dass aber ausgerechnet das Bienenwachs, das sie noch übrig hatte von der Kosmetikherstellung, der wegweisende Fund für ihr künstlerisches Schaffens sein würde, hätte sie nicht im Traum gedacht. Weil das Wachs herumlag, mischte die Künstlerin es einfach mal mit den Farbpigmenten in ihrem Atelier. Damals war das noch ein Zimmerchen unter dem Dach im bäuerlichen Elternhaus ihres Mannes in Möglingen. Es war ein ganz besonderes Blaugrau, das beim Erhitzen entstand. Es fügte sich in die Palette der bunten Grauwerte ein, die Albrechts Markenzeichen sind. Seine Wirkung war überwältigend.

 

Die Malerei gerät in einem Wachsrausch

Das Blaugrau versetzte Albrecht in einen regelrechten Wachsrausch, wie sie sich heute, mehr als 20 Jahre später, erinnert. „Ich habe mich in dem Wachs völlig verloren“, sagt sie, um die katalysatorische Wirkung dieses Werkstoffes auf sich und ihr Schaffen zu beschreiben. Sie war damals schon um die 30 und hatte um ihren Weg und Zugang zur Kunst gekämpft. „Ich habe schon als Sechsjährige Köpfe gemalt – immer Mädchen“, erzählt sie.

Das war in Ludwigsburg-Poppenweiler, wo sie mit vier Geschwistern aufgewachsen ist. Die ersten sechs Jahre lebte die Familie in einem Gewächshaus abseits der Welt. Ihr Großvater betrieb eine Gärtnerei. Der Geruch von feuchter Erde ist seitdem gleichbedeutend mit Heimat für Albrecht. Vielleicht war die Abgeschiedenheit des Glashauses ja das Rüstzeug für den beschwerlichen Weg abseits des etablierten Kunstbetriebs. Auf alle Fälle war es eine gute Vorbereitung auf die Einsamkeit der Malerin in ihrem Atelier.

Denn die höheren Weihen einer Ausbildung an einer Kunstakademie erhielt Marlis Albrecht nie. An der Freien Kunstschule in der Stuttgarter Zuckerfabrik nahm sie Unterricht, nachdem sie eine Ausbildung zur Bankkauffrau gemacht hatte. Mit 28 Jahren lernte sie ihren Mann, den Holzkünstler Gerhard Pflugfelder, kennen. Beide kündigten ihre Jobs und Wohnungen, um für ein Jahr durch Mexiko zu reisen.

Weil ihnen das Geld ausging, endete die Reise bereits nach drei Monaten – dafür aber mit dem Entschluss, von nun an nur noch selbstständig zu arbeiten. „Ich wollte nicht mehr nur nebenher malen“, sagt Albrecht. Das Paar baute Marionetten, fertigte Kosmetik, die es auf Märkten verkaufte. „Wir waren Traumtänzer“ – so beschreibt Albrecht dieses unkonventionelle Leben.

Das Material ist so vielschichtig wie die Gemalten

Inmitten dieses Lebensentwurfs machte Marlis Albrecht ihre Wachsentdeckung. Die Maltechnik wurde so etwas wie ihr Alleinstellungsmerkmal. Vieles war von nun an Improvisation. Wie zum Beispiel der elektrische Schnitzelbräter, auf dem sie ihre zweckentfremdeten Konservendosen mit den Wachsmischungen erwärmt. Glück macht erfinderisch. Die 58-Jährige kann im Rückblick gar nicht richtig beschreiben, was sie gefunden hatte.

Ein Material vielleicht, das ähnlich wie ihre Figuren vielschichtig ist und ahnen lässt, dass unter der Oberfläche noch eine andere Wirklichkeit schlummert? Einen Werkstoff, der so rau ist wie das Leben? Ein Material, das Albrechts Blick auf die Welt aufgreift und „den Schimmer des Inneren“ ihrer Protagonisten erkennbar mache. Immer schauen sie ernst, als wollten sie ihr Geheimnis nicht preisgeben. Marlis Albrecht sammelt ihre Mienen, wenn sie die Menschen mehr aus dem Augenwinkel als direkt beobachtet. „Ich setzte Fragmente zusammen.“ Manchmal haben die Frauen auch die lockige Haarpracht und Physiognomie der Malerin.

Winfried Kretschmann saß nicht Modell

Modell sitzt bei ihr niemand. Das hat sie bisher erst einmal zugelassen. Zu groß ist die Angst der Malerin vor der Begegnung der Porträtieren mit ihrer Kunst, die fast immer überzeichnet, um Eigenarten deutlich zu machen. Winfried Kretschmann saß deshalb genauso wenig in Pose in ihrem Atelier wie der ehemalige Szene-Gastronom Bernd Heidelbauer oder der Musiker Volker Kunscher. Das großformatige Werk „Schwabenliga“, auf dem sie neben diesen drei auch ausnahmsweise mal ihren Sohn und ihre Tochter verewigt hat, ist zusammengesetzt aus Erinnerungen.

Das Kuriose überhaupt jedoch ist, dass Albrecht auch schon in der Phase ihrer inneren Unzufriedenheit, bevor sie das Wachs für sich entdeckte, ganz gut im Geschäft war. Eine Zufallsbegegnung veränderte das Leben. Eine Frau, die bei Gerhard Pflugfelder eine Schale reparieren lassen wollte, sah ihre Bilder und empfahl sie einem Münchner Galeristen. Marlis Albrecht wurde zur Ernährerin der Familie.

Das geleerte Atelier als Preis des Erfolgs

In zwei Wochen wird sich ihr Atelier wieder leeren. Dann gehen die Bilder für eine Ausstellung zu ihrem Galeristen. Dann ist sie wieder alleine mit dem riesigen dreiteiligen Waldbild, an dem sie gerade arbeitet. Gesichter und Wälder sind ihr Lebensthema. „An die Leere im Atelier werde ich mich gewöhnen müssen“, sagt sie. Sie ist der Preis des Erfolgs. Ihr Lohn ist die Freiheit. Der Traum ist wahr geworden.