Jaroslav Rudiš mit Hesse-Hauskatze Foto: Stefan Kister
Was Zugfahrer in Stuttgart erleben, stellt auch Eisenbahnmenschen wie den tschechischen Autor Jaroslav Rudiš auf eine harte Probe. An diesem Mittwoch erhält er in Fellbach den Mörike-Preis. Ein Gespräch über kleinere und größere Krisenherde.
Jaroslav Rudiš ist viel unterwegs, zumeist mit dem Zug. Gerade hat er als Stipendiat im Hermann-Hesse-Haus in Calw Station gemacht. Wie ein Wiedergänger des Genius Loci streicht ihm mit wissenden Augen eine Katze um die Beine. Weil das benachbarte Café geschlossen hat, findet das Gespräch in seiner Küche statt. Vom Bier, an diesem Mittag nur alkoholfrei, führt die Reise über Stuttgart 21, die Ukraine, Kafka bis zum Pragfriedhof und dem Grab Eduard Mörikes.
Herr Rudiš, zugespitzt könnte man sagen, dass Ihr Schreiben motivisch um drei Dinge kreist: Nachtgestalten, Bier und Schienen. Weil Sie gerade einen Schreibaufenthalt in Calw hinter sich haben, lassen Sie uns von dort den Ausgangspunkt nehmen: Wie ist das Bier?
Es gibt hier eine kleine Brauerei, das Bier schmeckt sehr gut. Eine wirkliche Entdeckung aber war das Hochdorfer Pils, leider ist die Flasche, die ich davon hier habe, schon leer. Ich sammle gerade Geschichten für ein Bierbuch. Nach der Gebrauchsanweisung fürs Zugfahren soll bald eine fürs Bier erscheinen. Auch das wird eine kulturgeschichtliche Reise durch Wirtshäuser, Film, Musik und Literatur.
Was unterscheidet tschechisches Bier vom deutschen?
Das tschechische Bier ist sehr hopfig, mit weniger Kohlensäure. Die Deutschen mögen es lieber spritzig. Andererseits ist auch das Pils eine grenzüberschreitende Geschichte: das mit Sicherheit meistgetrunkene Bier hat ein bayerischer Braumeister in der böhmischen Stadt Pilsen erfunden.
Bleiben wir noch einen Augenblick in Calw, welchen Nachtgestalten begegnen Sie hier?
In der Graphic Novel „Nachtgestalten“ sagt eine Figur: „Ich hasse die Natur, ich bin ein Stadtmensch.“ Ich mache abends manchmal einen kleinen Stadtrundgang. Da ist es sehr ruhig, meistens bin ich alleine unterwegs und führe Selbstgespräche. Aber das ist auch sehr schön, diese Ruhe, eine besondere Stimmung.
Sie kommen aus einer Eisenbahnerfamilie, stimmt es, dass Sie als Kind eine Schallplatte mit den Geräuschen von Dampfloks hatten?
Ja, doch mit 15, 16 Jahren habe ich die Musik der Dampflokomotiven durch die von The Cure, Joy Division oder New Order ersetzt. Aber eine Lektüre, die mich geprägt hat, waren Kursbücher. Mit ihnen konnte ich die Reisen unternehmen, die hinter dem Eisernen Vorhang, wo ich aufgewachsen bin, nicht zu machen waren. Die hatten auch einen internationalen Teil mit Verbindungen nach Paris, Wien, in die großen Städte. Es ist für mich immer noch ein Wunder, dass ich 1989, da war ich 17, diese Weltöffnung erleben konnte, und ich nicht nur in Gedanken, sondern in der Wirklichkeit in einen dieser Züge steigen konnte. Für mich hat die Eisenbahn eine europäische Dimension. Es ist etwas, was uns verbindet.
Wohin ging die erste Reise?
Gleich im Dezember 1989 nach Wien, in die ehemalige Hauptstadt der alten Monarchie. Dann Salzburg, ohne zu wissen, dass Thomas Bernhard dort auch gelebt hat, der später zu einem meiner Lieblingsautoren wurde.
Jaroslav Rudiš teilt die Räumlichkeiten im Calwer Hesse-Haus mit einer Katze. /Stefan Kister
Ich verspüre immer den Impuls, die Bahn in Schutz zu nehmen. Dass Zugfahren hier gerade so kompliziert geworden ist, hängt damit zusammen, dass man über die Jahre vieles vernachlässigt hat. Aber auch wenn die Leute über die Bahn schimpfen, über den verpassten Anschluss, über die eine oder andere Verspätung, über das nicht funktionierende Bordrestaurant – wenn man dann mit ihnen ins Gespräch kommt und ihnen zuhört, kommt immer auch das Positive: eine Erinnerung an eine Reise nach Italien oder Prag oder nach Schweden. Oft ist es einfach so etwas wie eine enttäuschte Liebe. Es klingt vielleicht pathetisch, aber die Bahn transportiert nicht nur Menschen, sondern auch Geschichten.
Es soll Menschen geben, die Ihre Bücher nachreisen.
Tatsächlich scheint das bei „Winterbergs letzte Reise“ so zu sein, auch „Weihnachten in Prag“ wird nachgereist, beziehungsweise nachgegangen. Die sogenannte Zoorunde von Wirtshaus zu Wirtshaus und Bier zu Bier. Manchmal passiert es mir auch, dass ich im Zug sitze und jemand liest ein Buch von mir, das ist schon interessant, ich habe da auch schon signiert. Zu meinen Lesungen kommen auch immer wieder Lokführer. Ich glaube, dass die Bahn für uns doch eine große Bedeutung hat.
Was denken Sie, wenn Sie mit dem Zug zurzeit in Stuttgart einfahren?
Das ist nun wirklich eine Herausforderung. Ich mochte den alten Stuttgarter Bahnhof, bin aber durchaus für Modernisierungen und freue mich über jede ausgebaute Strecke, über jeden neuen ICE, über alles, was Bahnfahren leichter macht. Aber für das, was man gerade mit Stuttgart 21 erlebt, braucht man wirklich sehr, sehr viel Geduld und Eisenbahnliebe. Außerdem bin ich skeptisch, ob der neue Bahnhof nicht doch zu klein ist für das, was uns erwartet, nicht jetzt, aber vielleicht in zehn, zwanzig Jahren, soweit muss man ja denken. Was, wenn man merkt, dass man mehr Gleise braucht? Mal sehen, wie das wird.
Die Bahn ist das eine, aber die eigentliche Triebkraft bei Ihnen ist die Geschichte. „Winterbergs letzte Reise“ führt durch die Katastrophen der letzten beiden Jahrhunderte. Gerade erleben wir, dass mit Putin wieder die alten imperialen Geister aus den Gräben kommen.
Wir sind in Tschechien nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Art sowjetischen Kolonie geworden. Bis dahin hatten wir mit Moskau nichts gemein. Von Prag nach Moskau ist es deutlich weiter als von Prag nach Paris oder Wien. Das war auch die Welt, der wir uns als Jugendliche immer verbunden gefühlt haben. Zu Osteuropäern sind wir erst nach der Wende im Westen geworden. So haben wir uns nie verstanden. Kulturell, historisch, geschichtlich waren wir immer Teil der westlichen Welt. Und ich bin sehr glücklich, dass diese Verbindung wieder hergestellt worden ist.
Haben Sie Angst, die russische Einflusszone könnte sich wieder ausdehnen?
Klar sind diese Ängste plötzlich wieder da. 1968 hat auch niemand damit gerechnet, wie der Prager Frühling sein Ende finden würde, am 21. August. Das ist ein Datum, das bleibt. So wie der 24. Februar 2022, als Russland die Ukraine überfallen hat. Aber eines hat Putin ja zumindest geschafft: Dass das demokratische Europa wieder näher zusammengerückt ist und die ukrainische Kultur in der ganzen Welt bekannt wurde. Autoren wie Jurij Andruchowytsch oder Serhij Zhadan werden überall gelesen.
Sie sind Kopf der Kafka Band – analog zur Deutschen Bahn gefragt, hält Ihre Liebe dem Gedenkjahr stand?
Ich kenne keinen anderen Autor, der so offen für immer neue Annäherungen ist, so dass man immer wieder einen aktuellen Bezug findet. Seine Modernität ist überwältigend. Dabei war die tschechische Beziehung zu Kafka lange speziell. Man hat nach 1945 die deutschsprachige Kultur aus Böhmen und Mähren vertrieben. Plötzlich musste man stolz sein auf alles, was tschechisch war. So war auch Kafka unerwünscht. Wenn im „Prozess“ eines Morgens zwei Geheimpolizisten einen Mann aus dem Bett ziehen und verhaften, hätte das alle sofort an die tschechoslowakische Geheimpolizei erinnert.
Jetzt müssen Sie Ihr Kursbuch wälzen, eine schwierige Verbindung: Wie kommt man von Kafka zu Mörike, in dessen Namen Sie nun geehrt werden?
„Mozart auf der Reise nach Prag“ ist ein tolles Buch. Heute würde Mozart mit dem Zug fahren. Es gab sogar einmal einen mit seinem Namen, einen Eurocity, der zwischen Berlin, Wien und Prag verkehrt ist, jetzt fährt er nur noch unter einer langweiligen Zugnummer. Und dann ist da noch die Endstation Pragfriedhof in Stuttgart. Viele Tschechen fühlen sich da angesprochen, obwohl ich weiß, dass der Name nichts mit der Stadt zu tun hat. Ich war da oft, weil ich zu Friedhöfen eine besondere Beziehung habe. Es ist ein wunderschöner Ort mit einer wunderschönen Feuerhalle – und dem Grab von Mörike. Zu zwei früheren Mörike-Preisträger habe ich außerdem eine starke Verbindung. W.G. Sebalds Buch „Austerlitz“ war und ist für mich ein ganz wichtiger Roman. Die wenigstens wissen, dass Austerlitz in Tschechien liegt. Der andere ist Wolf Biermann. Ein Musiker und Dichter mit starkem Bezug zum Prager Frühling. Mit so Leuten in einer Reihe zu stehen, ist schon irgendwie verrückt.
Ihr Schaffen umgreift viele Genres: Musik, Graphic Novel, Roman, Gebrauchsanweisung. Kennen Sie keine Grenzen?
Ich frage mich manchmal, wohin ich gehöre: Bin ich ein deutscher Autor tschechischer Sprache oder tschechischer Autor deutscher Sprache? Ich glaube, ich würde immer sagen, ich bin Böhme, ja, ich bin Tscheche, der aber an die alte Mehrsprachigkeit von Schriftstellern wie Kafka oder Hašek anknüpft. Die Sprache kennt so wenig Grenzen wie die Geschichte. Für mich ist das der größte kulturelle Verlust, dass wir diese selbstverständliche Mehrsprachigkeit verloren haben. Ähnliches gilt auch für Gattungen. Ich lasse das alles fließen.
Heiterer Melancholiker: Jaroslav Rudiš /Stefan Kister
Man begegnet eigentlich nur Leuten, die Sie mögen, aber zugleich sind Ihre Bücher überschattet von Melancholie.
Ich mag Humor sehr, aber klar, die Welt ist nicht nur lustig. Es gibt eine böhmische Tradition der Tragikomik, Kundera hat etwas davon, Hašek, Hrabal – und auch Kafka. Ich glaube die Tschechen lesen Kafka anders, nicht so ernst. Und wenn man in diesen Tagen auf die Geschichte Europas blickt, kann einem schon mulmig werden. Das geht nicht ohne Humor.
Von Kafka zu Mörike
Autor Jaroslav Rudiš, geboren 1972 in der Tschechoslowakei, lebt heute in Lomnice nad Popelkou und Berlin. Er ist Schriftsteller, Drehbuchautor, Dramatiker und zusammen mit seinem Freund, dem Zeichner Jaromir 99, Gründer der Kafka Band.
Werk Neben Romanen wie „Grand Hotel“, „Vom Ende des Punks in Helsinki“ publizierte er die Graphic Novels „Alois Nebel“ (mit Jaromir 99) und „Nachtgestalten“ (mit Nicolas Mahler). 2019 wurde „Winterbergs letzte Reise“ – der erste Roman, den er auf Deutsch verfasst hat – für den Leipziger Buchpreis nominiert. Zuletzt erschien die Erzählung „Weihnachten in Prag“.
Termin Im Rahmen des Literaturfestival „Prosa, Pop & Poesie“ in Fellbach wird am 15. Mai der mit 15000 Euro dotierte Mörike-Preis an Jaroslav Rudiš verliehen. Den mit 3000 Euro dotierten Förderpreis erhält die 198 in Prag geborenen Schriftstellerin Alice Horáčková. Nach dem offiziellen Festakt um 18 Uhr im Uhlandsaal der Schwabenlandhalle tritt Rudiš um 20 Uhr mit seiner Kafka Band im Uhlandsaal auf. Am Tag vor der Preisverleihung, 14. Mai, 19 Uhr, wird in der Galerie der Stadt die Ausstellung „Alois Nebel – Leben nach Fahrplan“ eröffnet, ein Gemeinschaftswerk von Jaroslav Rudiš und Jaromír 99.