Am Hof des exzentrischen Modeschöpfers: Bernadette Sonnenbichler verwandelt Molières „Menschenfeind“ im Stuttgarter Schauspielhaus in eine Kostümshow – und kann froh sein, dass Matthias Leja ein wunderbarer Misanthrop ist.

Stuttgart - Ein leichter Dunst liegt auf der Bühne, ein feines atmosphärisches Gespinst, in das die Höflinge nach und nach aus Türen, Portalen und Öffnungen schlüpfen. Ihre Kostüme sind schrill, ihre Schuhe hoch und ihre Frisuren steil, als kämen sie aus einer Fashion-Freak-Show von Jean Paul Gaultier, der für seine Kreationen die modischen Extravaganzen des Rokoko ins Surreale gesteigert hat. Individuell ist in diesem Salon trotzdem nichts, in dieser ausgestellten Nonkonformität, in der sich alle höchst konform verhalten. Eingesperrt in formalisierte Bewegungsmuster, mal ruckelnd, mal fließend Beine, Hände und Köpfe bewegend, gockeln die adligen Galane vor Madame Célimène, uniforme Marionetten, die sich in Posen werfen, um der Gastgeberin zu gefallen. Nur einer spielt nicht mit: Krähenhaft schwarz gekleidet sitzt Alceste, der Célimène ebenfalls begehrt, unter den Zuschauern in Reihe fünf und verfolgt mit Abscheu die Bühnenparade der aufgeblasenen Heuchler.

 

Alceste ist der titelgebende Menschenfeind in dem Stück, das Molière selbst als Komödie bezeichnet hat. Komisch ist es aber nicht unbedingt, dafür enthält es als schonungslose Kritik an gesellschaftlichen Umgangsformen zu viele Bitterstoffe. Statt zu lautem Lachen lädt der Fünfakter, wie es im Programmheft heißt, zu verhaltenem Gelächter ein – und es zielt auf Verhältnisse, die der Dichter aus eigener Erfahrung kannte. Nach Jahren der Wanderschaft mit seiner Schauspieltruppe war Molière am Hof Ludwigs XIV. angekommen, ein fragwürdiges Glück, denn es lief unterm Sonnenkönig nicht nur gut für ihn. Beruflich und privat: Sein „Tartuffe“ wurde von der Zensur verboten, der Klerus griff ihn massiv an, und seine jüngere Gattin betrog ihn nach Strich und Faden. In dieser schwierigen Situation kam es 1666 zur Uraufführung seiner tragischen Komödie, worin er den verbitterten Alceste selbst spielte und seine Ehefrau die kokette Célimène. Nie war Molière autobiografischer als im „Menschenfeind“.

Der Tugendterrorist bleckt die Zähne

Also sitzt jetzt auch der Dramatiker zu Inszenierungsbeginn in Reihe fünf des Schauspielhauses. Hineingefahren ist er in den schmächtigen Körper von Matthias Leja alias Alceste, dessen Abrechnung mit der lächerlichen Hofschranzenparade die Regisseurin Bernadette Sonnenbichler zunächst über Lautsprecher einspielen lässt:

„Die Augen tun mir weh. Wo ich auch hinseh, alle / Ob in der Politik, ob in der Stadt, alle reizen meine Galle. / Nur dem Trübsinn kann ich mich ergeben / Wenn ich sehe, wie die Leute leben.“

Die Sache mit dem Trübsinn und der Galle wird aber nicht besser, wenn Alceste danach die Bühne entert. Sie stellt den Salon der Célimène dar, den Wolfgang Menardi als weiß ausgepolstertes Theater gestaltet hat: ein Aufmarschplatz mit Bühnenportal als Setting für die Selbstinszenierung grässlicher Leute, von denen beim Auftritt des finsteren Alceste nur noch der Philinte des Robert Rozic anwesend ist. Blauer Satinanzug mit senfgelber Bluse unter weißer Irokesenfrisur: Dass auch dieser farbenfrohe Geck vom schwarzgalligen Menschenfeind nicht länger als Freund geduldet werden kann, macht das Outfit deutlich. Und als Philinte erbost fragt, was denn gegen grassierende Verlogenheit zu tun sei, antwortet Alceste: „Sehr einfach: Man unterlässt / Die Heuchelei. Man redet, was man denkt / Damit das Herz die Worte lenkt.“ Klingt gut, sieht aber bei Matthias Leja lebensgefährlich aus: Für Sekunden bleckt er beim Reimen die Zähne, bereit, den anderen ihr wüstes Herz aus der Seele zu reißen, sobald sie die Unwahrheit sagen – ein Tugendterrorist, der den erhobenen Zeigefinger gerne um den kleinen Finger ergänzt, um mit dem Teufel zu drohen. Und so will er Célimène erobern?

Will er. Im Ernst. Aber da er innig hasst, was sie innig liebt, die Lügenspiele der Salons, ist er beim Werben um Célimène sein ärgster Feind. Nebenbuhler kann er besiegen, sich selbst aber nicht – sich als Verächter der Geselligkeit, als Kämpfer gegen Heuchelei, als Priester der Aufrichtigkeit, der über das Sonett von Oronte die verletzende Wahrheit sagt und vor Gericht kommt. Etikette gegen Ethik – und Alceste, der bei Molière auf ganzer Linie verliert, wird in Stuttgart zum verlierenden Gewinner des Hauptpreises: Leja ist der Spieler des Abends, der seinen Richter Gnadenlos mit einem Detailreichtum ausstattet, der staunen macht. Pech nur, dass er in der bösen Gesellschaftsgroteske weit und breit keine ebenbürtigen Gegenspieler findet, auch nicht in Therese Dörr, die trotz imposanter Turmfrisur und Abendkleid mit Goldfransen blass bleibt als langbeinige Salondiva.

Models mit schwebenden Untertassen

Überhaupt scheint es, als fungierten Spieler und Spielerinnern vor allem als Models. So sehr die Kostüme von Tanja Kramberger auffallen, so sehr frieren sie mit ihrer Neigung zur Karikatur jede Figur ein, noch ehe sie ein Wort gesagt hat. Die auf Formalismen setzende Regie tut ein Übriges, um das Ensemble der aufgeputzten Inszenierung weitgehend in Schach zu halten. Von den Spielern gehen kaum bleibende Impulse aus, vielleicht noch abgesehen von den drei Musikern, die in schwebenden Untertassen acht Meter über dem Geschehen mit Gitarre, Posaune, Bass den ironischen Soundtrack zu Molière liefern.

Eine Woche vorm „Menschenfeind“ hatte am selben Ort Ibsens „Wildente“ Premiere. Deren Botschaft: Die Suche nach Wahrheit kann, wenn sie andere Menschen ins Unglück stürzt, ein Verbrechen sein. Mit Molière knüpft das Theater an diese Erkenntnis an: Die Suche nach Wahrheit kann auch dann ein Verbrechen sein, wenn man sich selbst dabei zugrunde richtet. Immerhin: Diese Einsicht nehmen wir mit aus den hundert Minuten, die Bernadette Sonnenbichler nicht immer mit Kurzweil zu füllen vermag. Und auch diese: Der Intendant Burkhard Kosminski, der für seine erste Stuttgarter Saison auf ein übergreifendes Motto verzichtet hat, strickt im Schauspielhaus nicht nur ein Stück wahllos ans andere. Gedanken, was sinnvollerweise miteinander in einen Dialog treten kann, hat sich seine Dramaturgie schon gemacht.