In Italien werden reichlich Strafzettel ausgestellt. Der Auto Club Europa rät deutschen Urlaubern, die Knöllchen aus Italien zu ignorieren.

Stuttgart - Ihr glaubt es ja nicht", erzählt die italienische Kollegin R. beim Abendessen: "Da hat mir die römische Stadtpolizei doch tatsächlich alle Knöllchen präsentiert, die ich seit 1995 nicht bezahlt habe, und sie haben mir 16400 Euro in Rechnung gestellt!" "Bah, unglaublich!", schallt es aus der Tischrunde zurück: "Und dann?" Dann, sagt die Kollegin, "hab ich mir einen Anwalt genommen, der hat den Betrag auf elftausend Euro runtergehandelt. Weil mir das immer noch zu viel war, hab ich den Anwalt gewechselt und muss jetzt nur noch viertausend zahlen." "Super gemacht", applaudiert die Runde: "Da sieht man, warum Italien so viele Anwälte hat." "Die sind aber auch nötig", sagt R.

 

Diese Episode ist geradezu italientypisch - nicht nur für den Umgang der Bürger mit der Straßenverkehrsordnung. Sie erzählt auch von einem Staat, der zu unorganisiert, zu schlampig, zu schwach ist, als dass er seine berechtigten Ansprüche durchsetzen könnte, und der am Ende- wie bei den Steuern - einen Bruchteil dessen bekommt, was er fordern darf.

Viele Italiener betrachten diesen Staat als feindlichen Eindringling in die Privatsphäre. Dagegen ist Selbstverteidigung ein Menschenrecht: Nicht von ungefähr gibt es in Italien, auf die Einwohnerzahl umgelegt, fast doppelt so viele Rechtsanwälte wie in Deutschland.

Selbstverteidigung ist in Italien Menschenrecht

Die Kollegin R. könnte sich der beklagten staatlichen Übergriffe auch dadurch erwehren, dass sie Parkverbote, Tempolimits oder rote Ampeln künftig beachtet. Das aber hat sie den ganzen Abend lang nicht einmal in Erwägung gezogen.

Deutsche Italienbesucher haben es sogar noch besser als die Einheimischen: Sie brauchen nicht einmal Rechtanwälte einzuschalten, wenn sie die Bezahlung ihrer Knöllchen vermeiden wollen. Im Ausland steht Italien - wieder mal ein Beispiel für das angeblich "vereinte Europa" - ja noch viel schwächer da, was die Durchsetzung der eigenen Ansprüche betrifft.

Die Strafzettel, die Italien seinen Touristen irgendwann nach der Saison hinterherschickt, sehen zwar furchtbar amtlich und drohend aus - faktisch passiert einem Deutschen aber nichts, wenn er das Blatt in den Papierkorb knüllt. So rät in diesen Tagen der Stuttgarter ACE, der Auto Club Europa (richtig gelesen: Europa), ausdrücklich dazu, Knöllchen aus Italien "gelassen zu ignorieren".

Es wird geraten Knöllchen aus Italien zu ignorieren

Wer würde dem ACE dabei nicht recht geben? Hinsichtlich der Rechtsfolgen des fraglichen Verkehrsdelikts besteht tatsächlich kein Grund zur Besorgnis - und moralisch gesehen: wieso sollten Deutsche etwas tun, was "der Italiener selbst" nicht tut, nämlich eine Strafe zu bezahlen?

Von den Italienern haben die Deutschen in den vergangenen Jahrzehnten so vieles übernommen. Was nach Urlaub riecht und schmeckt, was südländische Leichtigkeit verspricht, all das gilt als Inbegriff der Lebenskunst schlechthin und hat begeisterte Aufnahme nördlich der Alpen gefunden. Es ist, als würde in Gestalt einer Lifestyle-Welle ("Toskana-Fraktion") weiterplätschern, was die Achtundsechziger sintemalen als Revolution im Sinne hatten: die Selbsterlösung aus deutscher Verbissenheit, aus grauer Pedanterie und den "verlogenen" Zwängen teutonischer Moral.

Und wenn die Deutschen was anfangen, dann machen sie's gründlich, bis hin zur Übertreibung. Widerspruchslos, in urlaubstrunkener Dauerfröhlichkeit gegenüber Bella Italia nehmen sie hin, dass Espresso und Cappuccino daheim bis zu dreimal so viel kosten wie an der Bar in Italien selbst; gerne zahlen sie wahnwitzige Preise für "echte" italienische Lebensmittel, und komplett fällt die Hemmschwelle gesunden menschlichen Misstrauens, wenn es um "traditionelle" regionale Geheimtipp-Spezialitäten geht - um solche auch, die Italiens Marketingstrategen Jahr für Jahr und vorzugsweise fürs Ausland kreieren.

Nur Strafzettel aus Italien sollten nicht beachtet werden

Nur bei italienischen Strafzetteln, da wollen und da sollen - laut ACE - die Deutschen sparen. Auch dieses bewusste Ignorieren staatlicher Sanktionen rechtfertigt sich als Übernahme "traditionell" italienischer Sitten und Gebräuche. Es beeinflusst in diesem Falle aber nicht nur das private, häufig ohnehin nicht rational gesteuerte Kaufverhalten; es hat Folgen für die Konstruktion und die Erhaltung einer gesellschaftlichen Moral. Genau deshalb ist eine solche Haltung gefährlich.

Erstens und ganz banal: die pauschale Aufforderung zum Ignorieren und das Zusammenknüllen der Strafzettel unterscheidet nicht zwischen berechtigten und unberechtigten Sanktionen. Gewiss sind die "Beweisfotos", die den italienischen Knöllchen beiliegen, vielfach ein Witz. Sie zeigen höchstens das Autokennzeichen, sie könnten überall aufgenommen worden sein. Prinzipiell aber gilt, und wenn's aus reinem Sportsgeist ist: Wer sich rechtlich danebenbenimmt, hat für die Folgen einzustehen. Selbst wenn sich Millionen anderer diesem Prinzip verweigern, wird das eigene Verhalten dadurch nicht gerechtfertigt.

Zweitens: die aus der Schwäche des Staates resultierende reale Möglichkeit, dem Gesetz und den Behörden ein folgenloses Schnippchen zu schlagen, führt im realen Leben dazu, dass der Einzelne meint, sich nach Lust und Laune verhalten zu können. Der Einzelne macht damit seine Vorlieben oder/und den Eigennutz zur höchsten Maxime seines Handelns, nicht aber die Rücksicht auf andere und das Einhalten auch sinnvoller, aber manches eben verbietender Regeln. Wohin ein derart "egomanisches" Verhalten führt, lässt sich beispielsweise auf den römischen Straßen tagtäglich besichtigen: ins Chaos.

Deutsche sollten nachdenken, welche Gebräuche sie übernehmen

Für Urlauber mag dieses Durcheinander lustig sein, "typisch italienisch" eben. Wenn römische Fußgänger aber im Alltag von Tempopiraten niedergemäht werden, weil Zebrastreifen beispielsweise für Motorradfahrer nicht zählen; wenn Einheimische vergeblich auf Feuerwehr oder Notarzt warten, weil diese auf den zweit- und drittreihig zugeparkten Straßen nicht durchkommen, gewinnt ein solches Verhalten schnell eine andere, eine mörderische Dimension. Touristen, die sich daran beteiligen, weil "alle" Italiener es in chronisch uneinsichtiger Weise ja auch tun, machen sich mitschuldig. Und daheim zahlen sie nicht einmal den Strafzettel.

Drittens und schlimmstens: es war exakt diese im Norden so geliebte italienische Leichtigkeit, diese Lässigkeit, diese "kreative" Missachtung von Recht und Regeln; es war die sorglose Schlampigkeit, das übertriebene Vertrauen in die eigene Improvisationskunst selbst im ärgsten Notfall; es war dieses systematische Nicht-Nachdenken über die Folgen des eigenen Handelns, das dieser Tage nicht nur Italien in den Brennpunkt der großen Finanzkrise treibt, sondern mit ihm womöglich auch den Euro zerstört.

Es lebe Italien! Es ist ein schönes Land. Nur sollten die Deutschen viel genauer nachdenken, was sie von ihm übernehmen.