Sieben Wochen nach dem Sexualmord an einer jungen Joggerin in den Weinbergen des Kaiserstuhls hat die Polizei noch immer keine heiße Spur. Im Internet verbreiten sich Gerüchte. Wie soll Endingen da eigentlich Weihnachten feiern?

Baden-Württemberg: Eberhard Wein (kew)

Endingen am Kaiserstuhl - Wie ein bleiernes Tuch hängt die Hochnebeldecke über den Endinger Dächern. Ein „bleiernes Tuch“ sieht auch der Bürgermeister Hans-Joachim Schwarz (CDU) über seinem sonst so lebensfrohen Weinbaustädtli liegen. So hat er es in seinem Weihnachtsgruß an die Bürger formuliert. Am Marktplatzbrunnen hinter dem großen Weihnachtsbaum flackern noch einige Grableuchten, ein paar Engelsfiguren stehen dabei, ein Strauß Rosen welkt vor sich hin. Der Rest sei abgeräumt und in Absprache mit der Familie ans Grab gebracht worden, sagt Schwarz. Dafür hat jemand einen Zeitungsartikel über nächtliche Begleit-Apps ausgelegt. „Hey Mädels, was für Euch“, steht dabei.

 

Ob Carolin G. das gerettet hätte? Am ersten Weihnachtstag ist es sieben Wochen her. Die 27-Jährige – frisch verheiratet, Auswahlspielerin des Südbadischen Fußballverbands – schnürt ihre Schuhe, setzt ihre Mütze auf, verschickt ein Selfie. Dann geht sie auf ihre Laufstrecke. Um 15 Uhr wird sie von Bekannten an der Stadthalle gesichtet. Eine Viertelstunde später sehen Passanten, wie sie auf einem schmalen Fahrweg durch die Weinberge Richtung Bahlingen läuft. Sie hat Stöpsel in den Ohren, hört Musik. Ihren Mörder hat sie wohl nicht kommen hören. Drei Tage später findet ein Suchhund ihren Leichnam wenige Meter abseits des Weges im Dickicht eines abschüssigen Wäldchens. Sie sei vergewaltigt und getötet worden, sagt die Polizei.

Der Mord ist überall Thema

Und jetzt soll Weihnacht werden. In seinem Amtszimmer zündet Schwarz eine dicke weiße Kerze an. „Die habe ich mir zwei Tage nach der Todesnachricht gekauft“, sagt der Bürgermeister. Natürlich spricht er lieber über die Projekte in seiner 9000 Einwohner zählenden Stadt, über das reiche Vereinsleben, in dem sich auch die Familie des Opfers engagiert, oder die 111 Neubürger, die er gerade im Bürgersaal begrüßt hat. Dann blitzen seine Augen hinter den runden Brillengläsern. Doch all diese Themen sind unwichtig geworden. Bei jedem Jubilarsbesuch komme das Gespräch früher oder später auf den Mord. Und schnell kippe die Betroffenheit in Wut. „Was meinen Sie, wie oft hier plötzlich die Todesstrafe gefordert wird?“

In einem viel zu kleinen Raum in der alten Polizeidirektion in der Kreisstadt Emmendingen drängt sich die 40-köpfige Sonderkommission „Erle“ zur täglichen Teambesprechung. Aufgaben werden verteilt, Erkenntnisse ausgetauscht. 1200 Hinweisen sei man nachgegangen, 1500 Personen habe man befragt, sagt der Sprecher der Polizei, Walter Roth, hinterher. Zwei externe Profiler hätten ihre Einschätzung zum Tathergang und zur möglichen Persönlichkeitsstruktur des Gesuchten abgegeben. Doch die berühmte heiße Spur sei noch nicht in Sicht. Auch eindeutige Täter-DNA fehle noch. „Das kann Wochen dauern.“

Eine Suche in einem riesigen Heuhaufen

Im Fall der drei Wochen vor Carolin G. in Freiburg getöteten Studentin hatte den mutmaßlichen Täter ein Haar verraten, das die Forensiker aus einer Brombeerhecke gefischt hatten. Im 30 Kilometer entfernten Endingen ist der Tatort weitläufiger und somit der sprichwörtliche Heuhaufen viel größer. Ein zunächst vermisster Laufschuh lag 150 Meter vom Tatort entfernt. Entsprechend umfangreich sei das Spurenmaterial, das gesichert wurde. Doch es gibt Grenzen. „Wir können ja nicht alle Reben abholzen“, sagt Walter Roth.

Auch über Weihnachten werde – in verringerter Besetzung – weiter gefahndet. Nach wie vor sei die Soko hoch motiviert. Doch der Druck von außen sei ungewöhnlich hoch. „Was in den sozialen Netzwerken für ein Unsinn gepostet wird, ist nicht zu fassen.“ Das Opfer sei schwanger gewesen, habe mehrere Liebschaften gehabt – nichts davon sei wahr. Als die Soko vor einigen Tagen zu einer Hausdurchsuchung ausrückte, war der volle Name des Wohnungseigentümers kurz darauf bei Facebook nachzulesen. Inzwischen stehe fest: Der Mann scheide als Tatverdächtiger definitiv aus. Die Pressestelle der Freiburger Polizei wird jetzt für Twitter geschult. „Ich kann doch nicht zu jedem haltlosen Gerücht eine Presseerklärung verfassen“, sagt Roth.

War es ein Einheimischer?

Gleichwohl verbreitete sich das Gerücht selbst beim Seniorennachmittag der katholischen Kirchengemeinde. „Hast du gehört, ein Endinger war’s“, hieß es plötzlich. „Ein Riss geht durch unsere scheinbar heile Welt“, sagt der Pastoralreferent Georg Mattes. „Alle dachten, hier auf dem Land kann so etwas nicht passieren.“ Jetzt wird befürchtet, ein Einheimischer könnte es gewesen sein. „Der Täter war nicht zum ersten Mal dort“, vermutet die Polizei. Zu groß sei die Gefahr, sich zwischen den Weinbergen zu verlaufen.

Mattes begleitete als Notfallseelsorger die Suchtrupps und war dabei, als der Familie die Todesnachricht überbracht wurde. Zusammen mit dem Pfarrer Jürgen Schindler hielt er wenige Tage später einen Klagegottesdienst ab und richtete in der Wallfahrtskirche Sankt Martin einen Traueraltar ein. „Trauer, Verzweiflung, Wut – wir wollten dem, was alle empfanden, einen Ausdruck geben.“ Den Trost gab es später. „Wie kann ein guter Gott so etwas zulassen?“ Darauf hat Mattes erst bei der Beerdigungsfeier eine Antwort: „Gott war die ganze Zeit bei Carolin. Er konnte aber nichts machen. Das ist der Preis unserer Freiheit“, sagt er.

Krimis gehen nach wie vor

In der Innenstadt laufen die Vorbereitungen auf das Fest. Der Weihnachtsmarkt am dritten Advent war ordentlich besucht. Im Spielwarenladen klingelt die Kasse, im Büchergeschäft verkaufen sich Krimis wie eh und je. Im Pfarrhaus hat Schindler seine Tanne aufgestellt. „Es gab Jahre, da konnten wir uns unbelasteter auf Weihnachten freuen“, sagt er. Und doch müsse man das Fest feiern. „Gerade in einer solchen Situation kommt Gott in unsere Welt.“ Bürgermeister Schwarz hat derweil verfügt, den nächtlichen Stromsparmodus bei der Straßenbeleuchtung auszusetzen. Im neuen Jahr beginnt bei der Volkshochschule ein Selbstverteidigungskurs für Frauen. Und vielleicht werde ja die Fasnacht die gedrückte Stimmung etwas lösen, hofft Schwarz. Doch zur Ruhe kommt der Ort wohl erst, wenn die Polizei den Täter fasst.