Er hat eine ihm unbekannte 77-Jährige im Stuttgarter Westen auf offener Straße getötet. Trotzdem muss der Angeklagte nicht ins Gefängnis.

Stuttgart - Er hat die Tat, die der Vorsitzende Richter Jörg Geiger ein „fürchterliches Verbrechen“ nennt, begangen. Er hat eine Rentnerin am helllichten Tag auf offener Straße im Stuttgarter Westen mit einem Küchenmesser erstochen. Und er hat die Bluttat vor der 9. Schwurgerichtskammer des Landgerichts auch gestanden. Trotzdem ist der 37-jährige Stuttgarter in der Verhandlung am Mittwoch vom Vorwurf des Mordes freigesprochen worden – ganz so, wie es sein Verteidiger Stefan Holoch beantragt hatte.

 

Schuld setzt Verantwortung für sein Tun voraus. Doch die Reststeuerungsfähigkeit des Angeklagten könne nicht mehr zweifelsfrei festgestellt werden, so Richter Geiger. Und wenn der Mann nicht steuerungsfähig war an jenem Mittag des 8. Dezember 2019, also wenn er nicht schuldfähig war, kann er auch nicht zur Verantwortung gezogen werden.

Die Richterinnen und Richter verfügen, dass er dauerhaft in einer Psychiatrie unterzubringen ist. Wie lang dies letztendlich sein wird, kann derzeit niemand sagen. Der Mann, ein wegen eines Drogendeliktes vorbestrafter Bürokaufmann, leidet seit 2007 an einer paranoid-halluzinatorischen Psychose. Er ist überzeugt, dass seine Nachbarn ihn ausspähen, dass sein Radio und sein TV-Gerät so manipuliert sind, dass sie Nachrichten speziell an ihn senden. Man will ihm Böses, ist der 37-Jährige überzeugt. Er begibt sich mehrfach in psychiatrische Behandlung – es bringt nichts. Auch der Einsatz von Neuroleptika bleibt erfolglos. Zu allem Übel wird er von Schlaflosigkeit geplagt.

Psychiatrische Behandlung bleibt erfolglos

2019 verschlimmert sich sein Zustand. Er bekommt erstmals Tötungsgedanken. Sein Plan, der ihm, so sagt er, von einer Stimme in seinem Innern eingeflüstert wird: Er müsse einen älteren Menschen töten, damit er ins Gefängnis komme. Nur so könne er sein Leben auf die Reihe bekommen. „Abwegig und verrückt“, nennt Richter Geiger dieses Ansinnen.

Doch der 37-Jährige setzt seinen Plan um – nicht einfach so, er versucht, die Wahnsinnstat „durchaus verantwortungsvoll“, so der Richter, noch zu verhindern. Nach einer schlaflosen Nacht auf den 8. Dezember meldet er sich bei einem Bereitschaftsarzt, der ihn in die Notfallpraxis des Marienhospitals schickt. Dort wartet der Mann auf den Psychiater. Die Wartezeit ist ihm zu lang. „Es kam zu einem Bruch in seinem Innern, der Wahn nahm überhand“, sagt Richter Geiger. Fünf Minuten nachdem der Mann die Klinik verlassen hatte, kommt der Psychiater.

Das Opfer hatte keine Chance

Der 37-Jährige fährt in seine Wohnung an der Forststraße im Westen, nimmt ein Küchenmesser und tritt wieder auf die Straße. Dort ist die 77-jährige Renate R. unterwegs. Die in der Nachbarschaft äußerst beliebte Frau kennt den Mann nicht, er kennt sie nicht. Er zieht das Messer aus einer Jutetasche und rammt es der Rentnerin in die Brust. Schon dieser Stich ist tödlich. „Dann stach er dem Opfer noch unbarmherzig in den Rücken“, so der Vorsitzende Richter.

Renate R. hat keine Chance, sie stirbt kurz darauf in einer Klinik. Der Täter geht in ein Café, gesteht die Tat und lässt sich widerstandslos festnehmen.

Nun also der Freispruch. Eine Unterbringung auf Bewährung komme nicht infrage, so der Richter. Der Mann habe laut Gutachter eine ungünstige Prognose, er sei sehr schwer krank. Sein Krankheitsbild habe sich trotz Psychiatrieaufenthalten über die Jahre verfestigt. Seine Behandlung werde viele Jahre dauern.