Im Mordfall Tobias wurde lange ein Unschuldiger verdächtigt, der über Details berichtete. Nur: die kannten viele. Es müssen Schaulustige vor Ort gewesen sein.

Stuttgart - Eines Abends, eine Familie sitzt beim Essen, sagt der Sohn aus heiterem Himmel: „Ich habe den blauen BMW gegen die Wand gefahren.“ Unmöglich, denkt sich der Vater: sein Junge ist erst 16, er hat weder Führerschein noch ein Auto. „Was sagst du da?“ Von dem Jungen kommt keine Antwort mehr. Der Vater reimt sich zusammen, dass das eine Szene aus der Krimiserie Derrick gewesen sein muss, die der Junge – warum auch immer – just in diesem Moment nachsprach.

 

Falsche heiße Spur

„So müssen Sie das einordnen, was mein Sohn Ihnen erzählt“, sagt der Vater später zu Jürgen Schüßler, als sein Sohn des Mordes an dem elfjährigen Tobias in Weil im Schönbuch verdächtigt wird. Schüßler ist nach der Tat am 30. Oktober 2011 Hauptsachbearbeiter der Soko Weiher und weiß kaum, wo er anfangen soll: mehr als 17 000 Personen mussten überprüft, 2400 Spuren verfolgt werden. Spur 58 erschien den Ermittlern lange Zeit als die heißeste.

Sie führte zu dem Sohn, einem damals 16 Jahre alten Sonderschüler. Durch ein Interview mit dem Fernsehsender RTL 2, in dem er sich selbst fälschlicherweise als bester Freund von Tobias dargestellt hatte, brachte der zuvor Unbehelligte sich selbst auf die Liste der Ermittler. Der junge Mann schien in vielerlei Hinsicht verdächtig, mehrfach hatte er Kindern Pornoheftchen gezeigt und sich exhibitioniert, vor allem aber: er wusste, in welcher Position der tote Junge hinter der Hütte lag. Dass er Laub in den Händen hielt. Dass er die Augen geöffnet hatte. Und: er hat den Mord an Tobias gestanden: „Ich habe ihn abgestochen!“

Schaulustige müssen am Tatort gewesen sein

Später widerrief er das Geständnis, kam dennoch für vier Wochen in Haft, von wo aus er Schüßler um Ausgang bat. Er wolle ihn zur Tatwaffe führen. „Wir liefen stundenlang um den Weiher“, erinnert sich Schüßler als Zeuge vor dem Landgericht. „Der Mörder ist da gelaufen, dann habe ich das Messer vergraben“, wiederholt er, was der Schüler ihm damals sagte. Innerhalb eines Satzes wechselte der Junge in die Ich-Perspektive und machte sich die Geschichte zu eigen. „Natürlich haben wir nichts gefunden“, sagt Schüßler. Damals hätte er sich wohl nicht vorstellen können, dass er heute, zwölf Jahre später, im Prozess gegen einen 48-Jährigen aussagen würde, der bis vergangenen August noch ein völlig unbeschriebenes Blatt für die Kripo war.

Der Verdacht gegen den geistig Zurückgebliebenen erhärtete sich nicht. „Wir wussten irgendwann: es ist nicht der, den wir suchen“, sagt Schüßler. Vor allem, weil dessen vermeintliches Täterwissen nichts wert war: „Nur Stunden nach dem Mord haben bei uns die Telefon geklingelt. Die Leute wollten wissen, ob es stimme, dass dem Jungen die Genitalien abgeschnitten worden wären.“ Eine „absolute Katastrophe“ sei es für die Ermittler gewesen, dass solche Details an die Öffentlichkeit gelangten. „Wir haben uns das im Nachhinein so erklärt: der Weiher wurde großräumig ausgeleuchtet.“ Im Schutz der Wälder müssen sich Schaulustige aufgehalten haben.

Doch viele, die der grausige Mord betroffen machte, begnügten sich nicht damit. Tobias’ Eltern strebten ein Klageerzwingungsverfahren gegen den Schüler an, das scheiterte. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen erst 2007 ein.