Moskau in Zeiten des Kriegs „Mit dem Westen spreche ich nicht“
Kaum jemals war es so schwierig, in Russland journalistisch zu arbeiten. Unsere Korrespondentin Inna Hartwich erlebt eine Mischung aus Zynismus und Verzweiflung.
Kaum jemals war es so schwierig, in Russland journalistisch zu arbeiten. Unsere Korrespondentin Inna Hartwich erlebt eine Mischung aus Zynismus und Verzweiflung.
Es war an einem Dienstagnachmittag, einem sonnigen Tag in Moskau. Einem dieser freundlichen Tage, von denen es viele gab, seit Wladimir Putin am 24. Februar seine „militärische Spezialoperation“ ausgerufen hat. In Moskau hat sich seitdem nichts verändert. Auf den ersten Blick. Die Stadt lebt das Leben einer Metropole. Autos rasen, hupen, stehen im Stau. Die Sonne scheint. Die Menschen eilen irgendwohin, rennen zum Bus, streben in die vollen Cafés. Auf der Moskwa schippern die Schiffe, bis die ersten Eisschollen sie aufhalten werden. Ein normales Leben, hätte man früher gesagt, als das Leben normal zu bezeichnen war. Auch nach dem 24. Februar will Russland mit aller Macht den Anschein erwecken, als sei alles normal.
Für manche in der Stadt ist das unerträglich. Für Rita zum Beispiel, eine 38-jährige Ärztin aus Moskau. Sie und Hunderttausende andere kehren ihrer Heimat den Rücken. Es sind jene, die es nicht mehr aushalten hier, die keinen Job mehr finden, die ihre Kinder aus dem Land bringen, weil sie die zunehmende Indoktrinierung nicht ertragen. Die nicht in den „Fleischwolf“ in der Ukraine geschickt werden wollen, wie sie sagen, für Ideen, die nicht die ihren sind. Der Raum, um für ihre eigenen Ideen zu kämpfen, wurde ihnen genommen, schleichend, immer mehr. Das Parlament arbeitet nahezu täglich an der Verschärfung von Gesetzen.
Manche Menschen ergreifen schlicht die Flucht und sagen: „Das hier ist nicht mehr mein Land“, um dann woanders an diesem, ihrem Land zu leiden. Sie gehen in der Hoffnung, bald wiederzukommen. Wann aber ist dieses „bald“? Sie wissen es nicht. Ihr Unwissen ist ihre Hilflosigkeit, ist ihre Verzweiflung, ihr Ekel. Rita sagt: „Ich habe mich entschieden, und diese Wahl lasse ich mir nicht nehmen.“ Sie will nach Israel. Wie mittlerweile mehr als 30 000 ihrer Landsleute. 25 000 Russinnen und Russen jüdischen Glaubens sind in den vergangenen Monaten bereits israelische Staatsbürger geworden.
So steht die 38-jährige Ärztin an diesem sonnigen Dienstagnachmittag zwischen ein paar bräunlichen Bücherregalen. Zufällig neben mir. Ich war in diesen Buchladen gegangen, um zu sehen, ob die Inhaber wirklich Bücher von Autorinnen und Autoren aus dem Regal geräumt haben, die sich gegen diesen Krieg aussprechen, der in ihrem Namen geführt wird. So hatte ich es in einigen Telegram-Kanälen gelesen. Hatte gelesen, dass die Werke mit der Aufschrift „Ausländischer Agent“ versehen würden, dass die Bücher in dunkles Papier eingepackt würden und man kaum den Titel des Buches finde. In diesem Laden zumindest, dem größten staatlichen Buchgeschäft des Landes, steht allerlei: Bücher von Autoren, die den Krieg befürworten, nicht weit von Werken der Autoren, die den Krieg aufs Schärfste verurteilen. Dazwischen finden sich hübsche Neuausgaben von „1984“ und von „Wir“, einem sowjetischen Roman, der eine Dystopie entwirft, ähnlich der von „1984“, Jahre später. Es war das erste Buch, das in der Sowjetunion zum verbotenen Roman erklärt wurde.
Rita und ich bleiben an einem kleinen Regal mit Hebräisch-Büchern stehen. Vor dem Krieg habe ich bei einer Russin Hebräisch gelernt. Wir umgingen häufig unsere politischen Einstellungen und konzentrierten uns auf den Unterschied zwischen hebräischen und russischen Verben. Der Krieg nahm mir auch die Freude am Hebräischen. Nun aber will ich das Gelernte wieder hervorholen, für mich zu Hause, ohne die Lehrerin. Das Ladenregal hat nur wenige Lehrwerke zu bieten. Ich blättere durch ein Buch, Rita blättert durch das Buch daneben. Sie schaut mich eindringlich an. „Wollen Sie auch gehen?“, fragt sie. Gehen? Auch?
Noch bevor ich etwas sagen kann, redet Rita. Das ist außergewöhnlich. Seit Russland die Ukraine vernichten will, redet kaum mehr einer in Russland offen und frei. „Krieg“, „Spezialoperation“, „die Ereignisse“, „die Gesamtsituation“, „das, was passiert“ – egal, welche Worte die Menschen wählen, sie wählen sie nur, wenn sie in etwa wissen, wie das Gegenüber dazu steht. Weil sie es aber meistens nicht wissen, sagen sie auch nichts. Das journalistische Arbeiten erschwert das enorm. Noch vor Monaten waren die Menschen vor allem in der russischen Provinz froh, ausländischen Journalisten von ihrem Leben zu berichten. Sie waren geradezu stolz, Besuch aus dem Ausland zu empfangen, zu erzählen, manchmal auch zu belehren. Sie scheuten sich kaum, von Missständen zu sprechen. „Wenn schon unsere Journalisten nichts davon hören wollen, so erzählt ihr wenigstens darüber“, sagten sie oft. Viele von ihnen träumten von einem schönen Leben. „So wie ihr in Europa“, sagten sie. „Europa“, „europäisch“, das waren Worte, die etwas Magisches zu haben schienen. Wovon träumen sie jetzt?
Die meisten sind verstummt. Es gibt nur noch ein Thema. Es gibt nur noch den Krieg und alles, was damit zu tun hat: fehlende Mittel, fehlende Reisen, fehlende Achtung. Viel Leid. Kaum eine Zukunft. Darüber reden wollen nicht viele. Die einen, weil sie für alles, was schiefläuft in ihrem Land, den Westen verantwortlich machen. Die anderen, weil es ihnen so wehtut, weil sie sich schämen vor der Welt, sich hilflos fühlen. Und weil sie Angst haben, für diese Worte Probleme mit dem Staat zu bekommen. Nie in meinem journalistischen Leben habe ich die Gesprächspartner so oft anonymisiert wie in den vergangenen zehn Monaten.
Und nie habe ich so viel über mich selbst geredet. Über meine Arbeit, mein Leben in Russland. Was ich hier mache, wie lange, warum. Was mich freut, was mich nervt. Wenn es gut läuft, fassen die Menschen Vertrauen und erzählen. Seit zehn Monaten läuft es meistens schlecht. Die Menschen lassen einen stehen. Sie beenden die Telefongespräche. Sie verweisen auf „Probleme“, sprechen davon, dass sie mit „dem Westen“ nicht sprechen, manche schreien auch: „zum Teufel mit euch Verrätern“.
Wenn sie reden, rechtfertigen sie sich. Werfen einem die immer selben Floskeln an den Kopf. Floskeln, die denen gleichen, die die Propagandisten im Staatsfernsehen Tag für Tag von sich geben: „Wir beenden Kriege, wir fangen keine Kriege an. Wo wart ihr die letzten acht Jahre? Der Westen wollte uns immer klein halten! Die Ukraine mit ihrem Clown als Präsidenten ist selbst schuld! Wir bringen Frieden!“ Sie machen sich lustig darüber, dass Ukrainer ihre Kinder zu Tankstellen tragen, damit diese dort an ein Inhalationsgerät angeschlossen werden können. Sie sagen mit ruhiger Stimme, wie dumm die Ukrainer sein müssten, wenn sie gar Stromgeneratoren in die Keller schleppten. Sie erwähnen nicht, warum die Menschen dort in der dunklen Kälte ausharren müssen. Wie menschenverachtend kann man sein? An manchen Tagen will ich die Menschen um mich herum schütteln und erschrecke vor mir selbst. An anderen rede ich ruhig und erkläre Satz für Satz, was für einen Unsinn sie da von sich geben, und bekomme Propaganda-Floskeln als Antwort. Es ist meist kein Durchdringen möglich. Oft sage ich nichts, drehe mich um und gehe. Sie haben sich in einer Lüge eingerichtet, die für sie Wahrheit ist. Psychologen sagen, die Menschen schützten sich. Schützten sich vor Scham, spalteten Grausamkeiten ab, um zu überleben.
Wie können sie mit einer solchen Schuld leben? Mit einer solchen Verantwortung? Manchmal sehe ich Männern hinterher, solchen, die uns Trinkwasser ins Haus tragen, solchen, denen ich im Bus begegne, solchen, die sonntags neben ihren Kindern bei den beliebten Bastelkursen sitzen, wie ich es neben meinem Kind tue, und ertappe mich bei dem Gedanken, ob sie nicht vielleicht bald eingezogen würden. Die Mobilisierung ist offiziell nicht zu Ende. Es sind erschreckende Gedanken. Ja, auch Gedanken des Mitleids.
Gehen, bleiben, ertragen? Auch ich stelle mir solche Fragen in diesen Monaten. Jeden Tag. Es ist wie ein Hintergrundrauschen im Kopf, immer da. Die Antwort lautet: bleiben. Bleiben, solange es möglich ist. Solange mich dieser Staat die Arbeit machen lässt, die ich hier mache. Er erschwert sie immer mehr. Beliebt waren westliche Journalisten auch vor dem Krieg nicht bei den Behörden. Nun sehen die Offiziellen uns, „Nestbeschmutzer“ in ihren Augen, als Vertreter „unfreundlicher Staaten“. Das hat Auswirkungen auf unseren Aufenthalt. Bekamen wir vom russischen Außenministerium früher eine Akkreditierung für ein Jahr, die die Grundlage für ein Visum und somit den Verbleib in Russland bildete, so erhalten wir dieses Dokument nun für jeweils drei Monate. Oft nur wenige Tage, bevor die alte ausläuft. Es ist ein ständiges Bangen, alle drei Monate aufs Neue. Reisen von und nach Moskau sind ebenfalls erschwert. Direkte Flüge nach Europa gibt es nicht mehr. Jeder Grenzübertritt ist unangenehm, weil der Beamte Fragen stellen könnte. Fragen wie „Wie stehen Sie zur ,Spezialoperation‘?“, „Was halten Sie von der Ukraine?“. Es ist reine Willkür. Man weiß nie, was mit den Antworten passiert, man steht an der Grenze und hofft darauf, wieder ins Land gelassen zu werden, das seit Jahren eine Art Zuhause ist. Ein Zuhause, von dem ich früher oft auch in die Ukraine aufgebrochen war. Aus Moskau über Kiew zu schreiben geht nun nicht mehr. Moralisch nicht, praktisch nicht.
In diesem Moskauer Zuhause, in dem die Einsamkeit so groß geworden ist wie nie zuvor, weil nahezu alle Freunde – russische wie ausländische – gegangen sind, versuche ich, die Nuancen des heutigen Russland zu verstehen. Ich würde sie noch weniger begreifen, wäre ich nicht vor Ort. Die Dissonanz zu ertragen, in einem Kriegsland zu wohnen, das so tut, als führe es keinen Krieg, verlangt Tag um Tag Kräfte, von denen ich nicht glaubte, dass ich sie besitze. Millionen von Menschen in Russland tragen diesen Krieg mit. Viele von ihnen hinterfragen ihn nicht. Sie sagen oft nicht einmal Krieg dazu. Sie schicken ihre Söhne in den Krieg und halten sie für Helden. Sie beerdigen ihre Leichen und sagen: „So ist das Leben.“ Die Schicksalsergebenheit vieler Russen hat mich immer irritiert. Ich versuche sie auch jetzt zu verstehen. Und scheitere oft daran. Wie ich an so vielen Erklärungsversuchen scheitere. Ein russisch-australischer Bekannter sagte noch zu Beginn des Krieges: „Als Journalistin hast du wenigstens die Fähigkeit zu abstrahieren, Distanz zu halten zum Geschehen.“ Ich fürchte, diese Fähigkeit ist mir am 24. Februar abhandengekommen.
Über Russland zu schreiben heißt heute: über den Krieg zu schreiben. Nur über den Krieg, andere Themen sind nicht mehr vorhanden. Über einen grauenvollen Vernichtungskrieg, der für viele Menschen im Land eine Art fernes Spiel zu sein scheint. Zurück bleiben Verheerungen. Auf Jahrzehnte hinaus.