Die ersten Fans stehen schon in der Früh vor dem leuchtend roten Werkstor mit dem weißen Adler und der Aufschrift „Moto Guzzi“. Manche von ihnen reisen mit dem Motorrad bis aus Finnland nach Mandello del Lario am Südrand des Comer Sees. Dort werden die Moto-Guzzi-Maschinen seit 1921 gefertigt. Viele der Gebäude auf dem weitläufigen Areal wirken äußerlich wie damals. Nicht mehr lange.
Es war Roberto Colaninno, der Mehrheitsaktionär und Chef des Moto-Guzzi-Mutterkonzerns Piaggio, der kurz vor seinem Tod im August 2023 grünes Licht für das derzeit größte Investitionsprogramm der Piaggio-Gruppe gegeben hat. Die Kapazitäten bei Moto Guzzi sollen bis 2025 von fast 20 000 Einheiten pro Jahr verdoppelt werden, Guzzi Land heißt das Projekt des amerikanischen Architekten Greg Lynn.
Die Mitarbeiter, von denen viele selbst mindestens eine Moto Guzzi haben, erleben einen neuen Aufbruch. Zu den besten Zeiten arbeiteten bei Moto Guzzi bis zu 1700 Mitarbeiter, heute sind es maximal 200. Jede Schraube wurde einst selbst gefertigt. Es gab ein eigenes Lebensmittelgeschäft, eigene Ärzte, Sportvereine wie den noch immer existierenden Ruderverein Canottieri Moto Guzzi unten am See, der viele internationale Titel sammelt. Moto-Guzzi-Maschinen gewannen reihenweise Welt- und Europameisterschaften. 1934 war Moto Guzzi der größte Motorradhersteller der Welt.
Doch es gab auch schwierige Zeiten. Der stolze Adler stürzte in den Konkurs, wurde zeitweise staatlich. 2004 landete Moto Guzzi zusammen mit dem Motorradbauer Aprilia bei Piaggio. Es wurde investiert. Die Verkaufszahlen stiegen von 4600 im Jahr 2010 auf annähernd 20 000. Der Adler fliegt wieder ganz hoch.
Nach dem Tod des Piaggio-Konzernchefs führen nun seine Söhne Matteo und Michele das Werk fort. Zusammen mit ihrer Mutter Oretta Schiavetti kontrollieren sie Omniaholding, eine Gesellschaft, die 59 Prozent der Anteile von Immsi hält, die wiederum mit mehr als 50 Prozent an Piaggio beteiligt ist. Matteo, Jahrgang 1970, ist Verwaltungsratsvorsitzender von Piaggio und der Holding Immsi. Sein sechs Jahre jüngerer Bruder Michele ist Vorstandsvorsitzender von Piaggio.
Hauptumsatzträger und Symbol des Unternehmens ist die Vespa, die auch ein Lebensgefühl verkörpert, das Dolce Vita. Das allein wird auf Dauer nicht tragen. „Wir wollen Mobilitätslösungen für alle produzieren, für die Jungen wie für die Erwachsenen“, sagt Michele Colaninno. Er kümmert sich um Innovationen wie bei Piaggio Fast Forward. Die US-Tochter ist in der Robotik tätig, entwickelt Sensoren für die Straßensicherheit und beschäftigt sich mit der Mobilität der Zukunft. Bei der Vespa Elettrica und den E-Scootern Piaggio 1 und Piaggio 1 Active wird der herausnehmbare Akku an der Steckdose aufgeladen. Mit KTM, Honda und Yamaha werden austauschbare Batterien entwickelt und mit der Foton Motor Group Elektro-Nutzfahrzeuge. Michele Colaninno hat sich zum Ziel gesetzt, „die DNA der Piaggio-Gruppe (zu) ändern, die sich von einem auf Mechanik beruhenden Konzern zu einem auf Basis von Elektronik und Elektro entwickeln soll“. Für Moto Guzzi ist das sicher keine Option.
Piaggio investiert auch in die Einzelmarken. „Es waren schwierige Jahre: Seitdem Moto Guzzi Teil der Piaggio-Familie ist, haben wir daran gearbeitet, die Trümmer wieder aufzubauen, und heute erzielen wir Rekordumsätze“, sagt Michele Colaninno. Der Moto-Guzzi-Umsatz ist im ersten Halbjahr 2023 um 30 Prozent gewachsen. „In der neuen Fabrik werden wir die beste Technologie der Welt haben“, sagt der Chef.
Auch Piaggio hat schwere Zeiten erlebt. 1884 in Genua als Hersteller von Schiffsinnenausrüstungen gegründet, stellte das Unternehmen später in Pontedera Flugzeuge und Kampfbomber her. Nach der Zerstörung der Produktionsanlagen im Zweiten Weltkrieg begann mit der Vespa, deren Urform 1946 auf den Markt kam, eine einzigartige Erfolgsgeschichte. Doch in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts stürzte Piaggio in eine schwere Krise. Roberto Colaninno übernahm Piaggio 2003 von der damaligen Deutsche-Bank-Tochter Deutsche Morgan Grenfell. Der ehemalige Chef des Computerproduzenten Olivetti und von Telecom Italia brachte das Unternehmen auf Vordermann.
Die Vespa wird in Pontedera gefertigt, in der Nähe von Pisa. Hier laufen auch die anderen Piaggio-Roller wie Beverly, Medley oder Liberty und die dreirädrige Piaggio Mp3 300 vom Band, die Motorradmarke Gilera, der Kleintransporter Porter und der dreirädrige Minitransporter Ape. 3700 Beschäftige arbeiten hier.
In Mandello, dem Sitz von Moto Guzzi, wird es künftig neben dem Museum auch ein Kundenzentrum, Reparaturserviceleistungen, ein Restaurant sowie ein Hotel und Führungen durch eine gläserne Fabrik geben. Mandello soll eine „Referenz werden, über die Moto-Guzzi-Fans hinaus, auch für die jungen Leute und den internationalen Tourismus“, heißt es bei dem Unternehmen.
Hohe Profitabilität
Zweiradkonzern
Piaggio ist Europas größter Zweiradkonzern und hinter Honda und Yamaha die weltweite Nummer drei mit Marktanteilen bei den Scootern von 23,3 Prozent in Europa und 29,3 Prozent in Nordamerika. Die Marke Vespa hat laut Interbrand einen Wert von 1,1 Milliarden Euro. Das legendäre Zweirad wird auch in Indien, Vietnam und in Indonesien gefertigt.
Kennzahlen
Der Umsatz der Piaggio-Gruppe erreichte zwischen Januar und September 1,6 Milliarden Euro. Die Betriebsmarge (Ebit) liegt bei 9,8 Prozent, der Nettogewinn wuchs um 21,5 Prozent auf den Rekordwert von 85,7 Millionen Euro.
Börse
Der Börsenwert beträgt mehr als eine Milliarde Euro. Der Großteil der Analysten empfiehlt den Kauf des Papiers. Mediobanca-Analyst Gilles Errico glaubt, dass das Unternehmen wegen seines „diversifizierten geografischen Footprints seine hohe Profitabilität halten kann“.