Weil in der kanadischen Metropole Montreal zum 1. Juli fast alle Mietverträge auslaufen, heißt es in dieser letzten Juniwoche Kisten schleppen – in der halben Stadt.

Montreal - „Gleich haben wir es geschafft“, ruft Maxime seinen Freunden zu. Es ist heiß in Montreal. Hätte der junge Mann sich kein Tuch um die Stirn gebunden, würde ihm der Schweiß ins Gesicht rinnen. Eine enge Treppe aus Gusseisen windet sich in den zweiten Stock. Maxime und seine Freunde hieven ein Sofa aus dem Laster und schleppen es Stufe für Stufe nach oben. Dann steht das Möbelstück oben. Maxime hat es eilig. Er muss den Mietwagen zurückbringen, denn Zeit ist Geld in den verrückten Umzugstagen in Montreal rund um den 1. Juli.

 

Die Avenue de Lorimier ist eine der schmucken Wohn- und Einkaufsstraßen, die sich durch das Plateau Mont-Royal ziehen. Alte Ahornbäume werfen ihre Schatten auf die Häuser mit ihren Ziegelsteinfassaden und den kleinen Vorgärten. In dem zweistöckigen Haus, das wie die meisten in dieser attraktiven Wohngegend durch eine Außentreppe geprägt ist, hat Maxime Carignan-Chagnon eines der drei Apartments im Obergeschoss gemietet. Fünf Freunde und seine Mutter helfen heute. „Ein Umzug in Montreal muss gut geplant sein, schnell und effizient gehen“, sagt er und nimmt einen Schluck aus einer Wasserflasche. Sein Lastwagen blockiert den Bürgersteig und auch einen Teil der Straße. Weder Fußgänger noch Autofahrer stören sich daran, denn durch Umzugswagen versperrte Straßen gehören in diesen Tagen zum Stadtbild.

Der „Jour de deménagement“ hat Tradition

Die Provinz Quebec, deren größte Stadt Montreal ist, weist, wenn es um Mietwohnungen geht, eine landesweite, wenn nicht sogar internationale Einzigartigkeit auf: Nirgends in Kanada sind Umzüge so auf einen Tag konzentriert. Der 1. Juli ist der Umzugstag, der „Jour du déménagement“ oder „Moving Day“, da fast alle Mietverträge am 30. Juni auslaufen. „Wir haben in Quebec 1,3 Millionen Mietwohnungen, und etwa 70 Prozent der Mietverträge, also etwa eine Million Verträge, enden am 30. Juni“, sagt Jean-Pierre Le Blanc von Regie du logement, der für den Mietwohnungsmarkt zuständigen Behörde der Provinzregierung. Wenn nur 20 Prozent der Haushalte, deren Vertrag endet, umziehen, wären es eine Menge Menschen. Er schätzt, dass 200 000 Haushalte umziehen.

Dass in den Tagen vom 24. Juni, Quebecs Nationalfeiertag, bis zum 1. Juli, Kanadas Nationalfeiertag, in den Städten der Provinz der Umzugswahn tobt, ist einer Tradition geschuldet, die ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Die französische Kolonialregierung untersagte den feudalistischen Grundbesitzern, Bauern und Bediensteten im Winter zu kündigen. Dies wurde für Mietwohnungen in den Städten übernommen und im Zivilrecht Quebecs niedergeschrieben: Niemand sollte in der kalten Jahreszeit auf der Straße stehen. Als Datum für das Ende von Mietverträgen wurde der 30. April festgelegt, so dass über zwei Jahrhunderte der 1. Mai der große Umzugstag in Quebec war. 1973 entschied die Regierung Quebecs, den Umzugstag in den Sommer zu verschieben, damit Schüler nicht während des Schuljahres ihre Schule wechseln mussten. Feste Termine wurden nicht mehr vorgeschrieben, aber die Mehrheit blieb bei einjährigen Verträgen, die nun am 1. Juli beginnen.

Zum 1. Juli steigen regelmäßig die Preise

In der Rue Marie-Anne schleppen Graham und Edward Möbel die Steiltreppe hinauf. „Es ist eine alte Sitte. Vielleicht liegt es inzwischen sogar in unseren Genen“, sagt Edward. „Da sind wir stur.“ Ihn fasziniert „all die Aufregung und Hektik“, die sich rund um diesen Termin breitmacht. Aber etwas Flexibilität gibt es doch. „Wir haben unseren Umzug ein paar Tage vorgezogen, damit wir nicht in die verrücktesten Tage geraten, in denen es keine Laster mehr gibt und alle Straßen total verstopft werden“, ergänzt Graham. Viel Zeit für ein Gespräch hat er nicht. Auch er drückt auf die Tube. Auf dem Bürgersteig steht ein großer Kühlschrank, im Laster wartet ein Herd.

Wer es sich leisten kann, heuert ein Umzugsunternehmen an. Auch für diese ist der 1. Juli ein logistischer Albtraum. „Es ist verrückt“, sagt Joe Gagnon, der Präsident von Westmount Moving und Warehousing. „25 unserer Trucks sind in Montreal unterwegs, für 250 Umzüge in zehn Tagen.“ Kunden beklagen sich, dass am 1. Juli und an den Tagen die Preise steigen. „Ja, die Leute müssen mehr zahlen“, sagt Gagnon. „Die Konzentration auf wenige Tage bedeutet, dass unsere Ressourcen nicht ausreichen und wir zusätzliche Laster anmieten, Ausrüstungsmaterial kaufen und Personal anstellen müssen.“ Etwa 100 Leute beschäftigt Gagnon in diesen Tagen, 15 bis 20 sind saisonal angestellte Kräfte.

In Montreal wohnen 42 Prozent der Bevölkerung zur Miete

Die Engpässe werden dadurch verstärkt, dass Quebec nicht nur mit dem großen Umzugstag am 1. Juli, sondern auch bei der Struktur des Wohnungsmarktes eine Sonderrolle spielt. In keiner der zehn Provinzen ist der Prozentsatz derer, die zur Miete wohnen, so hoch wie hier, und der Anteil an Wohneigentum so gering. In ganz Kanada leben 67 Prozent der 13,3 Millionen Haushalte in den eigenen vier Wänden und nur 33 Prozent in Mietwohnungen oder -häusern. In Quebec aber liegt der Mietanteil bei 42 Prozent, in Montreal sogar bei 50 Prozent.

Im Restaurant und auf der Terrasse von Maamm Bolduc, einer typischen Nachbarschaftskneipe in der Rue Marie-Anne, herrscht Hochbetrieb. Ein gemischtes Publikum sitzt unter den roten Sonnenschirmen der Brauerei St. Ambroise. Von der anderen Straßenseite schauen einige junge Leute sehnsüchtig herüber. Sie haben keine Zeit für ein Bierchen. Sie schleppen Kisten. Auf einem Lastwagen steht der Slogan: „We make your move easier“ – wir machen ihren Umzug leichter. „Es ist wirklich irre. Und es wird am Sonntag noch turbulenter“, sagt eine Kellnerin. Dann ist Nationalfeiertag. Aber in Montreal ist es vor allem der einzigartige Jour du déménagement.