Kamala ist eine ganz normale 16-Jährige – und Muslima. Ach ja, und Superheldin. Wer bei Disney+ die Serie „Ms. Marvel“ entdeckt, sollte unbedingt auch mal die Comics probieren.

Was haben die meisten Superhelden gemeinsam? Die einfache Antwort, tadaa: Superkräfte. Lange Zeit hätte man allerdings noch ergänzen können: Sie sind weißhäutige Männer. Sie sehen aus, als seien sie Amerikaner mit ausschließlich westeuropäischen Wurzeln. Sogar dann, wenn sie wie Superman von einem anderen Planeten stammen.

 

Ein stur euro-anglozentrischer Machohaufen sind die Weltenretter zwar schon lange nicht mehr. Frauen und Afroamerikaner haben ihre Quoten bekommen und einige Wesen aus dem All dürfen nun auch ein bisschen wie Wesen aus dem All aussehen. Muslime allerdings waren lange kein Heldenmaterial, für sie waren Bösewichtrollen reserviert. Und eine Muslima, ein Migranten-Tennie-Mädchen als Identifikationsfigur – das schien eine völlig durchgeknallte Hoffnung zu sein. Bis im Februar 2014 Ms. Marvel alias Kamala Khan ihren Auftritt in einem eigenen Marvel-Comic hatte.

Erst Gequake, dann Serie

Kamala, die in New Jersey lebende 16-jährige Tochter pakistanischer Eltern, ließ einigen Erregungspatrioten unter den Comic-Fans sofort die Sicherungen rausknallen. Es gab Beschimpfungen, Verhöhnungen und dummes Gequake, als dürfe eine Muslima nach 9/11 nicht positiv in die Comictraum-Staaten eingefügt werden. Aber es gab auch genug Leserinnen und Leser, die Charme, Kraft und Bedeutung der Figur sofort erfassten.

Kamala Khan wurde zwar kein Megastar der Superheldenszene wie Spider-Man. Aber regelmäßig legt Marvel neue Abenteuer und die alten Geschichten in Sammelbandform vor. Eine offenbar präzise getroffene, obwohl sehr bunt gemischte Zielgruppe liebt diese plötzlich zu schwer beherrschbaren Kräften gekommene Kamala sehr. Und nun ist sie sogar die Heldin einer Marvel-Live-Action-Serie beim Streamingdienst Disney+ geworden. Das haben auch viel länger dienende Comic-Recken noch nicht alle geschafft.

Verankert im Alltag

Superhelden – auch jene, die nicht fliegen können – schweben stets in Gefahr, die Bodenhaftung zu verlieren. So schön und gründlich wie Kamala Khan ist jedoch selten eine Marvel-Figur in der Alltagsrealität verankert worden.

Im ersten Heft, geschrieben von der Autorin G. Willow Wilson, gezeichnet von Adrian Alphona, lernen wir ein Mädchen zwischen Freunde und Familie, zwischen den Werten der Cliquen an der Schule und den Vorstellungen und Ängsten ihrer Eltern kennen.

Ganz normale Eltern – aus Pakistan

Als Kamala ihre Superkräfte entdeckt, braucht zwar der Gedanke „Wow, wie beherrsche ich die denn?“ viel Aufmerksamkeit. Aber noch mehr Stress macht eine andere Frage: Wie schleicht man sich trotz Stubenarrest aus dem Haus, um Superheldin zu sein? Und wie schafft man es zurück ins Zimmer, ohne dass die Familie etwas mitbekommt?

Kamalas Eltern sind nette Leute, aber besorgt um ihre Tochter. Ihre Strenge, erzählt der Comic sehr schön, ihre Angst, was der Tochter alles zustößen könnte abends in Jersey City, hat wenig mit der gern vermuteten Rückständigkeit dank Herkunft, mit einer religionsbedingten Engstirnigkeit zu tun. Sie entsprechen ganz der Sorge zum Beispiel christlicher oder atheistischer Eltern. Die Autorin G. Willow Wilson kam 1982 in New Jersey zur Welt, 2003 ist sie nach einer längeren Phase der spirituellen Suche zum Islam konvertiert.

Auch Superheldinnen sind mal überfordert

Das heißt aber weder, dass „Ms. Marvel“ Propaganda für einen Glauben macht, noch dass der Comic eine Art abwaschbarer, keimfreier Jedermannsmilieu entwirft, um bloß nicht anzuecken. Kamalas Bruder befindet sich bereits auf dem Weg in den religiösen Übereifer, ist aber manchmal der Entspannteste zuhause. Kamalas Eltern verdonnern sie durchaus zum Ermahnungssitzungen beim Imam der Moschee, zugleich ist ihnen die religiöse Strenge ihres Sohnes suspekt. Alles hier ist ein wenig komplizierter als die Klischees es wahrhaben wollen, das Ganze hat Ähnlichkeit mit einer schlauen Sitcom.

Mit anderen Worten: hier wird nicht einfach als Farbtupfer kurz mal ein unscharfer Muslima-Hintergrund hinter eine auf Teenie-Fans ausgerichtete neue Superheldin eingezogen. Hier geht es mit Engagement, Kenntnis und Sympathie ums Leben einer jungen, westlich orientierten, aber von vielen ihrer Mitschüler eben doch leicht unterscheidbaren Muslima in den USA.

Ironie und Stressfaktoren

Worum es auch noch geht: um die Sinnkrisen junger Menschen in einer Welt auf Selbstzerstörungskurs. Kamala kämpft nicht für einen Status quo, der erhalten werden muss, sie weiß, dass große Änderungen nötig sind. Aber welche genau und wie sie bewirken – das überfordert hier auch eine Frau mit Superkräften.

Die gerade gestartete Disney+-Serie „Ms. Marvel“ versucht in der ersten Folge durchaus, mit filmischen Mitteln den ironischen, flott verzerrenden, das Superheldenheghabe liebevoll auf die Schippe nehmenden Stil des Comics wenigstens ahnen zu lassen. Mal sehen, wo das in den weiteren Teilen noch hinführt. Mit Kamala Khan kann man jedenfalls Spaß haben, man kann auch ein bisschen nachdenken über die realen Stressfaktoren der multikulturellen Gesellschaft. Aber man kann diese Superheldin sogar ernst nehmen.

Hirnschmalz in Bewegung

Wer des Englischen mächtig ist und gerne auch mal auf eine Meta-Ebene klettert, für den gibt es in den USA einen interessanten Sammelband mit schlauen akademischen Aufsätzen, „Ms. Marvel’s America: No Normal“ (Herausgegeben von Jessica Baldanzi und Hussein Rashid; University Press of Mississippi, Jackson 2020).

Da geht es dann etwa um „Nation and Religion, Identity and Community“ – und Kamala Khan wäre sicher rührend beeindruckt, was sie da alles an Hirnschmalz in Bewegung bringt. Sie hätte nur keine Zeit, es zu lesen. Auf irgendeiner Müllhalde in New Jersey randaliert garantiert wieder ein Roboter aus Altmetall und Computerschrott, den Kamalas Anfangsfeind, ein durchgeknallter Erfindervogel (ja, buchstäblich ein Vogel), zusammengebastelt hat und der zur Ruhe gebracht werden muss.