Unter dem Motto „Privatsache“ stand in den letzten zwei Wochen das Festival, das 1988 von Hans Werner Henze gegründet wurde. Unter der Leitung der Komponisten Manos Tsangaris und Daniel Ott hat sich das Musiktheater weit geöffnet – auch für spielerisches Experimentieren weit jenseits des Bierernsten.

München - Etwas fehlt. Aus einer geöffneten Tür hat man drei Sänger singen hören, aber nun bittet ein freundlicher Mann das Publikum, das in einem Hauseingang auf Bierbänken Platz genommen hat, ihm zu folgen. „Something is missing“, sagt der Mann, und dann: „Let’s start!“ Los geht’s, aber bitte leise. So setzt sich, misstrauisch beäugt von etlichen Anwohnern und Passanten, eine Prozession um den Häuserblock in Bewegung, vorbei an einem Mann, der den Deckel einer Mülltonne auf- und wieder zumacht, vorbei an einer tropfenden Wasserflasche, die in einem Baum hängt, vorbei an einer laut telefonierenden Frau, an einem Innenhof mit überlautem Vogelgesang, immer wieder überholt von einer Frau mit einem rhythmisch klappernden Fahrrad. Drei Mal geht der Gang von vorne los, drei Mal begegnen die Besucher von „Bubble“ auf ihrem Weg merkwürdigen Gestalten und ins Groteske gesteigerten Geräuschen, drei Mal stellen sie sich hier und dort die Frage, ob das hier nun zum Stück dazu gehört oder doch eher nicht. Dann geht’s hinauf in die Wohnung, die extra für die Aufführung der Produktion von Lam Chai, Wilmer Chan, Nadim Abbas und Vanissa Law angemietet worden ist, und dort kann man dann, rundum beschallt von ziemlich pathetisch inszenierter Elektronik, drei stummen Akteuren in einer durchsichtigen Plastikblase zusehen, während kleine beleuchtete Robotertierchen auf dem Boden herumwuseln.

 

„Bubble“ ist ein munteres Spiel, musikalisch getragen von drei der auch sonst bei der diesjährigen Münchner Biennale intensiv beschäftigten Neuen Vocalsolisten Stuttgart (fünf Stücke der Biennale sind Koproduktionen mit Musik der Jahrhunderte und werden auch beim Festival Eclat 2019 zu erleben sein). Es ist weniger ein fertiges Werk denn eine Etüde über das Motto „Privatsache“, das 2018 das Festival umgetrieben hat. Gefragt wird dabei nach dem spätestens von den Wucherungen des Internets in Schieflage gebrachten Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit; versucht wird zudem eine Verteidigung des Intimen – und eine Rechtfertigung von Kunst als Ort des Individuellen und Besonderen, des analogen (und exklusiven!) Live-Erlebnisses.

Singen ist die privateste aller Äußerungsformen

So neu, mag man einwenden, ist das Thema nicht. Aber ebenso wie in anderen Bereichen hinkt die Musik auch hier den Diskursen in anderen Künsten ein wenig hinterher. Zum Ausgleich dafür hat das Musiktheater schon deshalb das Potenzial, die komplexen Fragen auf besonders vielschichtige und vielgesichtige Weise zu umkreisen, weil das Singen womöglich die allerprivateste aller Äußerungsformen darstellt. Dabei waren zumindest die ersten sechs der 15 Biennale-Premieren dieses Jahres nicht nur von tiefem Ernst geprägt, sondern auch von einer Lust am Spiel, die sich unmittelbar mitteilte.

Für sie sorgten maßgeblich junge Teams mit experimentellen, offenen Formaten. So gab es in der Wohnung gleich neben der neben der großen PVC-Blase ein Stück, das der Komponist Frederik Neyrinck gemeinsam mit Isabelle Kranabetter (Dramaturgie, Regie) und Sarah Hoemske (Bühne, Kostüme) erdacht hat: In „Nachlassversteigerung“ kommt das Inventar eines Verstorbenen unter den Hammer; ein Auktionator führt die Zuschauer durch dessen mit Kunst wie mit Lebensspuren durchsetzte Zimmer, eine Frau bietet saure Gurken aus dem Kühlschrank an, ein Sänger singt auf der Toilette, zwei Möbelpacker treiben, indem sie Mobiliar zwischen den Besuchern hindurch sinnlos von einem Raum in den anderen tragen, die Invasion der Öffentlichkeit ins Private ins Absurde, und im zweiten Teil des Stücks werden zu Gesang und Instrumentalspiel, die aus geöffneten Fenstern dringen, Zahlen von Entschädigungssummen nach Katastrophenfällen an die Hauswand projiziert. Wie viel ist ein Menschenleben wert?

So exklusiv wie bei Ruedi Häusermannsvor der Staatsoper errichteter „Tonhalle“ (mit vier Musikern, einem „Intendanten“ und Platz für zwölf Zuschauer) ging es sonst nirgends zu: Getreu dem Motto „Wenn Sie nicht zu uns kommen, kommen wir zu Ihnen“ inszenierten die Akteure ein ironisches Wechselspiel zwischen filigranen Streichquartettklängen im Innenraum und einem (allerdings nur simulierten) Außen. Baustelle, Hund, Passanten auf dem Platz: Das ist alles nur Fake. Und ein launiges, intelligentes Spiel rund um den inneren Widerspruch einer Kunst, die einerseits ein Schutzraum des Privaten, andererseits aber auch mitten in der Gesellschaft sein will. Dass bei „Tonhalle“ viel Musik zu hören war, adelte die Produktion zusätzlich, denn das war bei dieser Musiktheater-Biennale weiß Gott nicht selbstverständlich. Wobei das wohl klangfernste Stück, Franco Bridarollis und Davide Carnevalis von südamerikanischer Fantastik inspiriertes Sprechstück „Porträt des Künstlers als Toter“, dennoch einen hohen Spannungs- und Unterhaltungswert hatte.

Manche Komponisten erliegen der Magie des technisch Möglichen

Redundantes gab es auch – vor allem dort, wo Komponisten der Magie des technisch Möglichen erlagen wie etwa Marek Poliks, dessen Performance-Installation „Interdictor“ das weite Feld des elektronisch gesteuerten Brummens, Piepens und Blinkens eine Stunde lang weidlich und gähnlangweilig beackert.

Nach einem solchen Erlebnis wusste man die Professionalität zu schätzen, die etwa das große Kooperationsprojekt der Biennale mit der Deutschen Oper Berlin prägte: „Wir aus Glas“ von Yasutaki Inamori (Musik) und Gerhild Steinbuch (Libretto, Konzept) hat David Hermann inszeniert, und Jo Schramm hat einen Raum entworfen, der eine lang gezogene Bühne mit fünf Spielstationen und zwei Publikumstribünen derart gegeneinander verschiebt, dass einem beim Zuschauen immer wieder ein leichter Schwindel überkommt. Gezeigt werden banale, wiederholte Alltagsszenen, ein traurig-groteskes Leben in einer hermetischen Blase, in der die permanente Selbstbestätigung das einzige Ziel der Menschen ist. Die Texte dazu wirken manchmal ein bisschen didaktisch. Aber die Bewegungen der Sprecher und Sänger sind virtuos durchorganisiert – und greifen so die Idee der (minutiös ausgearbeiteten) Partitur auf, die Gesprächsfetzen wie auch banale Geräusche wie Zahnputzen, Rasieren und Toilettengang in die rhythmischen Muster im Spiel von sechs Instrumentalisten integriert. Sogar ein just aus der Nase gebohrter Popel wird zum Pizzicato des Cellos vom Finger geschnippt. Das ist amüsant, spielerisch, humorvoll und noch dazu richtig gut gemacht. Musiktheater, zeigt die Biennale, kann analog sein oder digital, kann offen sein oder ein fertiges Werk, ernst oder lustig, Großereignis oder Kleinstveranstaltung, weit weg von der Welt oder mittendrin – Hauptsache, es spiegelt unsere Gegenwart und tritt mit ihr in einen Diskurs, der im Übrigen durchaus nicht nur akademisch und kopfbetont sein muss. Dort, wo die Gattung repräsentativ ist, wohnt sie (noch?) in Opernhäusern. Aber mit ihrer Zukunft zu spielen, ist nicht nur eine Option, sondern könnte überlebensnotwendig sein.