Bei dem Münchner Kunstfund sind verschollene, aber auch bisher völlig unbekannte Werke aufgetaucht. Hinzu kommt, dass die Ermittler nur einen Bruchteil des Fundes zeigen, der die Kunstszene aufwühlt.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Augsburg - Augsburg, Gögginger Straße, kurz nach neun Uhr am Morgen, und wie noch immer stehen die Raucher draußen vor dem Oberlandesgericht. Es sind aber nicht nur die üblichen Stresspaffer, die schnell noch eine durchziehen, bevor sie in einem Verfahren wegen Körperverletzung oder Kleindiebstahl aussagen müssen, sondern in dieser Gegend der Stadt für gewöhnlich eher selten zu sehende, teils mondän gekleidete Menschen, denen man die Herkunft aus der Kunst- und Kulturszene auf dreißig Meter ansieht. Sie sagen : „Think of that – maybe even Picassos!“, aber auch gerne Sätze wie den folgenden: „Wahrscheinlich wird das hier alles total überschätzt.“ Wenn man eine Weile so dasteht, erwartet man fast, dass von hinten ein Tablett mit Kanapees und Chardonnay im Gefolge heranrauscht. Aber dann ist es doch eher das Gegenteil einer Vernissage. Weil eigentlich nur eine redet.

 

Seit der „Focus“ publik gemacht hatte, dass die zuständige Augsburger Staatsanwaltschaft eine Münchner Wohnung des nicht einmal gemeldeten Cornelius Gurlitt ausgeräumt hatte, wobei sich 1406 Werke aus dem Nachlass von Gurlitts Vater fanden (darunter offenbar reichlich Raubkunst oder als „entartete Kunst“ Klassifiziertes), war nicht nur die Kunstszene in konstante Kurzatmung geraten. Auch wenn kaum einer mehr wusste, als der „Focus“ recherchiert hatte, oder wohl gerade deshalb, schossen die fantastischsten Spekulationen ins globale Kraut: Was drin gewesen sei in der Wohnung am Hofgarten. Wie zugemüllt die ausgeschaut habe. Wo Gurlitt sich aufhalte (und wo nicht und seit wann). Und so fort. Am Ende hat es auch Reinhard Nemetz, dem Leitenden Oberstaatsanwalt in Augsburg, gedämmert, dass dieser Zustand ungut sei und schwer zu halten. Wobei Nemetz, mittlerweile 61 Jahre alt, kein Anfänger auf dem Gebiet der Öffentlichkeitsarbeit ist. Er hat die Augsburger Steuerhinterziehungsprozesse gegen Max Strauß hochkompetent und unendlich geduldig durchgestanden. Erst das Urteil auf drei Jahre und drei Monate, dann die Revision, schließlich den Freispruch. Damals war das Gericht in Augsburg, zumindest im Juli 2004, als der erste Urteilsspruch erging, im Ausnahmezustand. Doch Nemetz stand seinen Mann.

Es geht eng zu im Augsburger Sitzungssaal

Das tut er auch jetzt, am Dienstagmorgen um zehn Uhr, als er einen sechzig Quadratmeter großen Raum im Oberlandesgericht betritt, in den nun wirklich kein Stativ und kein schickes Hosenanzugsbein mehr reingehen. Gleich entschuldigt er sich, es gehe etwas beengt zu, aber „mit etwas gutem Willen kommen wir schon klar“. Alle anderen Sitzungssäle seien halt belegt. „Das ist Augsburg“, kommt es von hinten und von jemand, der den Duft der großen, weiten Welt meint mitgebracht zu haben.

Nemetz hingegen hat jede Menge Verstärkung: Regierungsinspektor Siegfried Klöble, Zollratsamt Bernhard Haller und vor allem Meike Hoffmann, eine Provenienzforscherin und Kunsthistorikerin von der FU Berlin. Relative Ruhe.

Nemetz nützt sie, indem er klarmacht, dass hier keiner auf den falschen Gedanken kommen sollte, es gelte Geschichten in der Manier der örtlichen Puppenkiste zu erwarten: „Bei der Staatsanwaltschaft Augsburg“, sagt er, „ist gegen eine Person ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts eines dem Steuergeheimnis unterliegenden strafbaren Sachverhalts und wegen des Verdachts der Unterschlagung anhängig.“ Aber Nemetz wäre nicht Nemetz, würde er nicht gleich noch ein bisschen allgemeiner verträgliches Futter mitliefern.

Wie die Fahnder auf Cornelius G. aufmerksam wurden

Im schönsten Augsburgerisch also erzählt er, wie Cornelius G. am 22. September 2010 gegen 21 Uhr, unterwegs zwischen Zürich und München auf dem Streckenabschnitt Lindau–Kempten amtlich kontrolliert wurde. Die Zollbeamten finden 9000 Euro, kennen aber, wie später Herr Klöble durchblicken lässt, auch ihre Pappenheimer. Bis 10 000 Euro im Gepäck sind noch erlaubt. Es schließen sich „längere Vorermittlungen“ an, wie Nemetz mehrmals betont, und schließlich „ein steuerstrafrechtlicher Anfangsverdacht“. Das ist – Raucher hin, Nichtraucher her – schwerster juristischer Tobak für ein internationales Medienpublikum, das sonst in der Mehrzahl wohl eher ästhetische Nuancen diskutiert. Aber Nemetz lässt sich nicht großartig beirren. Er ist nicht gekommen, um eine gigantische Schnurre zu erzählen, sondern hätte am liebsten in aller Ruhe weitergeforscht. Wer ihm denjenigen nenne, der den „Focus“ mit Informationen gespickt habe, knurrt er später einmal zwischendurch, bekomme „eine Ehrenurkunde mit Hilfssheriffstern“.

Anders als allenthalben berichtet, hat das Zollfahndungsamt München dann auch arbeitend lange zugewartet, bis es sich entschloss, den Verdächtigen Cornelius Gurlitt in der Schwabinger Wohnung, die noch seiner Mutter gehörte, aufzusuchen. Der Platz, auf dem dann am 28. Februar 2012 und an drei folgenden Tagen viele Meisterwerke gefunden werden, ist wesentlich kleiner als der Sitzungsraum: 30 Quadratmeter, wie Herr Klöble erläutert: ein Regal wie im Museum und viele Schubladen – für die Drucke. Fast kein Licht, die Raumtemperatur ist nicht wie fürs Museum getüftelt, doch okay.

Die Kunstsinnigen wollen noch viel mehr wissen

Bevor nun das Interesse ein ganz klein wenig erlahmen könnte, kommt Meike Hoffmann ins Spiel und betet ehrfürchtig ein paar Namen herunter: Liebermann, Beckmann, Dix, Kokoschka, Kirchner, Picasso, Spitzweg, Dürer, Chagall, Renoir, Hofer, Nolde, Schmidt-Rottluff. Und so weiter. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit. 121 gerahmte und 1285 ungerahmte Werke. Noch Fragen? Und wie. Die Beamten jedenfalls packen mit Experten drei Tage lang, bis alles verstaut ist. Im Übrigen liegen die Bilder, Drucke und Lithografien nicht in München-Garching, sondern an einem anderen Ort. Dutzendfacher Ruf: Wo? (Und es ist dann doch ein bisschen wie in der Puppenkiste.) „Woanders“, sagt Nemetz.

Es ist da noch keine halbe von satt anderthalb Fragestunden vorbei – und schon verläuft eine deutliche Demarkationslinie zwischen dem kunstsinnigen und kunstkrimisüchtigen Publikum und der juristischen Auskunftei. Die einen wollen vor allem: Gefühle. Die anderen wollen: Erkenntnisse für sich behalten. Man wird noch sehen, warum. Als Mittlerin fungiert, unter Aufsicht und oft in Rücksprache begriffen mit Nemetz, Meike Hoffmann: ganz in Schwarz, bis hin zur Brille.

Die Zauberkiste ist viel zu klein

Hoffmanns Zauberkiste mit Ansichten der Kunstwerke ist angesichts der beschlagnahmten Menge etwas klein geraten. Man wähnt sich wie auf längst vergangenen Dia-Heimabenden anno Opapa, als sie beginnt, eine Ansicht von Canaletto zu zeigen: Padua, wie es leuchtet, sechzehntes Jahrhundert. Ein musizierendes Paar von Spitzweg, ein Beckmann aus Zandvoort, Pferde von Marc: das meiste sei „nicht im jeweiligen Werkverzeichnis enthalten“, sagt Hoffmann, manchmal „leicht beschmutzt“, aber insgesamt „vorzüglich erhalten“. Schließlich ein Dix, der ein Raunen durch den Raum gehen lässt: Selbstbildnis mit Zigarre, gemalt wohl nach dem Ersten Weltkrieg. Nie gesehen – und selten vermutlich war der Satz so wahr, dass der Laie staunt und der Fachmann sich wundert.

Natürlich nimmt nicht nur die Frau von der „New York Times“ selbstverständlich an, dass die Werke nun möglichst schnell online gestellt werden, kennt da aber Reinhard Nemetz schlecht. Vom viel zitierten Washingtoner Abkommen nämlich sind die Privateigentümer ausdrücklich ausgenommen, und um die Privateigentümer hauptsächlich geht es der Augsburger Oberstaatsanwaltschaft. Sie (oder ihre Nachkommen) mögen sich, sagt Nemetz, nun melden, falls sie vermuten, es könne ein Bild, das ihnen gehörte, Bestandteil der Schwabinger Sammlung sein. Erste Anfragen – umfangreiche, wie man Nemetz’ Augenrollen entnehmen kann – lägen bereits vor. Trittbrettfahrer will man vermeiden.

Auf Cornelius Gurlitts Mithilfe setzt keiner

Vorerst wird Meike Hoffmann die einzige Expertin sein, die sich mit den Bildern beschäftigt – und nur nach Bedarf Expertisen von Kollegen hinzuziehen. Für Hoffmann ist diese Begegnung mit Artefakten, von der die Welt noch nicht einmal fantasiert hat, ein „unbeschreibliches Glücksgefühl“. Darüber hinaus werde weiterhin „ergebnisoffen ermittelt“, wie Nemetz anmerkt – und das könne dauern. Auf die Mithilfe von Cornelius Gurlitt setzt er dabei erst mal nicht. Gurlitt wurde länger befragt und hat offiziell keinen Anspruch auf die Werke geltend gemacht. Sein derzeitiger Aufenthaltsort ist der Augsburger Staatsanwaltschaft nicht bekannt. Aus Österreich ist indes zu hören, dass Gurlitt ein Haus im Salzburger Stadtteil Aigen unterhält. Wie in München, ist er seinen Nachbarn dort ebenfalls nicht bekannt. Ermittlungen der Österreicher waren wenig erfolgreich. Die Bundesregierung, der die Augsburger Bemühungen seit Längerem bekannt sind, wie Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin fast zeitgleich sagt, scheint aber auch in diesem Punkt mit der Staatsanwaltschaft d’accord zu sein. Allein Augsburg sei zuständig, so Seibert.

All diese Mitteilungen, die manchmal auch keine sind, sondern Hinhaltesätze, lassen am Ende keine große Partystimmung aufkommen. Allein Reinhard Nemetz verlässt den dritten Stock im Augsburger Oberlandesgericht mit einem von Prozesstagen wohlbekannten leichten Lächeln: Er hat lediglich gesagt – und sagen lassen –, was ihm „rechtlich möglich und ermittlungstechnisch sinnvoll“ erschienen war. Aber das letzte Wort ist das in diesem Fall selbstverständlich nicht.