Beim Festival Heidelberger Frühling ist das multimediale Musiktheater „Castor && Pollux“ uraufgeführt worden.

Heidelberg - Rameau, so schön! Diese Klänge: so farbig, so schillernd, so sehr aufgeladen mit Affekten! Diese Klarheit und Feingliedrigkeit! In Jean-Philippe Rameaus Oper „Castor et Pollux“ durchdringen sich Oper und Ballett, Rezitativ und Arie, die Übergänge sind so weich, so lebendig und so fließend, dass man glatt behaupten könnte, die viel zitierte „Kunst des Übergangs“ sei nicht erst von Richard Wagner, sondern schon gut ein Jahrhundert früher thematisiert worden. Fast naiv wirken die barocken Klänge, mit denen der Abend in der Alten Aula der Heidelberger Universität beginnt. Rameau, so schön, dazu Fotos von schönen Berggipfeln auf Flachbildschirmen, die rund um die Spielfläche an den Wänden befestigt sind. Auf und neben dieser Fläche sitzen die Zuschauer, die voller Neugier kamen, um beim bislang aufwendigsten Projekt des Festivals Heidelberger Frühling dabei zu sein. Ein multimediales Musiktheater soll sich hier ereignen, und was der leicht verfremdete Titel „Castor && Pollux“ ahnen ließ, stellt sich in Bälde ein: Die eben noch live gespielten Töne fließen zusammen wie Sterne zur Milchstraße, Rameau zerstäubt, wird zu einem elektronischen Strom aus Rauschen und Wummern.

 

Sänger sprechen chorisch und alleine. Eine Sängerin rezitiert die griechische Sage von Castor und Pollux, den Zwillingsbrüdern, die sich auch vom Tod nicht entzweien lassen und deshalb von Zeus nebeneinander ans Firmament gesetzt werden. Andere sprechen über künstliche Intelligenz, über die Zukunftsvisionen des Google-Entwicklungschefs Ray Kurzweil, die Unterschiede zwischen dem menschlichen Gehirn und Computer, den Begriff der Singularität. In Zeiten, in denen alles Gedachte und Notierte in Clouds gespeichert wird, so die Quintessenz, hat jeder Lebende einen digitalen Zwilling. Unsere fleischliche Hülle mag zu Staub zerfallen, aber das Überleben in Daten ist gesichert.

Es geht um nichts weniger als die Utopie der Unsterblichkeit: in der griechischen Sage, in Rameaus Oper wie in dem Musiktheater, das Lukas Rehm (Musik, Video), Lisa Charlotte Friederich (Libretto, Regie) und Jim Igor Kallenberg (Dramaturgie) miteinander konzipiert haben. Diese Utopie für unsere Zeit neu zu definieren, ist die Idee von „Castor && Pollux“, und es zeugt von der Offenheit des Festivalintendanten Thorsten Schmidt, dass er dem jungen Team den Freiraum für seine Arbeit geboten hat. Und das Geld: Das Stück ist, vor allem wegen seines komplexen, interaktiven 4D-Soundsystems, technisch überaus aufwändig.

Leider ist das Ergebnis nur mager. Rameau, diese starke, hochemotionale Musik, kommt in Appetithäppchen vor, wird aber immer wieder von der Elektronik zur Strecke gebracht (und außerdem zuweilen von den mit historischen Instrumenten bewaffneten Rosetti Players in Intonation und Koordination eher mittelmäßig dargeboten). Die Kunst der Übergänge beherrschte Rameau besser. Unter den jungen Sängern sind gute und solche, die noch besser werden können. Sprechende Sänger sind immer ein Problem; hier besonders. Das Konzept des Stücks ist klug und hochinteressant. Aber aus dem dramaturgisch intelligent Gesetzten wird nur wenig Theater und schon gar keine Geschichte. „Castor && Pollux“ ist ein mit Musik durchsetztes Thesenpapier. In einer Cloud freilich wird es unsterblich sein.