Die Komische Oper in Berlin feiert 70. Geburtstag – und Intendant Barrie Kosky schenkt dem Publikum eine mitreißende Inszenierung des Musical-Evergreens „Anatevka“. Da lässt es sich auch Bundespräsident Steinmeier nicht nehmen, zu gratulieren.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Berlin - „Anatevka“ war einmal die Eintrittskarte ins Opernhaus für viele, denen das klassische Musiktheater, die Werke Mozarts, Verdis und Wagners also zum Beispiel, fern stand – und fern stehen musste. Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Sohn einer aus Breslau vertriebenen Tischlerfamilie, erinnerte persönlich daran, als er in einer pointierten Rede zum siebzigjährigen Geburtstag der Komischen Oper vor der Premiere von „Anatevka“ zugab, selber zum Beispiel „kein Instrument spielen“ zu können, aber immer musikinteressiert gewesen zu sein. Trotzdem laufe er auch heute in höchster Funktion noch nicht mit dem Harenberg-Opernführer unter dem Arm herum. In die „Komische“ allerdings gehe er immer gerne, weil sie eine „Oper für alle“ sei.

 

Dass sie das werden konnte, verdankt sie dem Wiener Walter Felsenstein, der in der Behrenstraße 1947 begann, Kunst als Überlebensmittel einer Bevölkerung anzubieten, die fast nichts mehr zu bewohnen hatte, wenig anzuziehen und noch weniger zu essen. Dennoch (oder deshalb) ging Felsenstein, wie Steinmeier aus Bestellzetteln zitierte, unerschrocken die sowjetische Kommandantur an, bestellte fünfzig Damenschuhe (in Goldton) – und bekam sie. Das Leben war, weiß Gott, kein Spiel damals, aber manchmal ein bisschen besser zu ertragen, weil wieder gespielt wurde.

„Anatevka“ ist ein Musical ohne Happy-End

„Anatevka“, 1964 für den Broadway nach dem wunderbaren Roman von Scholem Alejchem von Joseph Stein und Jerry Bocks eingerichtet, war viele Jahre und SED-Parteitage später eine hart zu knackende Nuss in der DDR, als das Musical 1972 in der Komischen Oper aufgeführt wurde, um daraufhin über sagenhafte 500 Mal auf dem Spielplan zu stehen. Schließlich thematisiert das Stück nicht nur die weißrussischen Progrome gegen die Juden um 1905 durch die zaristischen Truppen, sondern auch das Entstehen einer „neuen Welt“, die hier so oft beschworen wird. Nichts bleibt am Ende, wie es ist im Schtetl Anatevka, wo drei von fünf Töchtern des Milchmanns Tevje (mit den anderen zwei und seiner Frau Golde emigriert er nach Amerika) ihren eigenen Willen durchsetzen: Sie lieben, wen sie wollen. Zweimal akzeptiert das der ständig im Monolog mit Gott befindliche Tevje. Erst als Chava heimlich einen orthodoxen Christen heiratet, zerreißt das Familienband. Einen Mann mit „falschem Glauben“ will der Vater nicht hinnehmen. Seltsam genug für ein Musical: ein Happy-End gibt es nicht – und auch keine Heimat mehr. „Anatevka“ endet unversöhnlich, eine hoffnungsvolle Zukunft bleibt schemenhaft.

Barrie Kosky nun, der heutige Intendant der Komischen Oper, als gebürtiger Australier gerade frisch eingebürgert in Deutschland, kennt die Geschichte von „Anatevka“ nur allzu gut: Es ist, mehr oder minder, die seine. Koskys stammten aus dem weißrussischen Schtetl Chashniki, der Großvater verlässt den Ort in der Nähe von Vitebsk um 1905 und unter denselben Umständen. Pogrome drohten auch ihm und seiner Familie. Über Hamburg geht es auf den fünften Kontinent. „Anatevka“, sagt Barrie Kosky zurecht, sei nicht nur deswegen nicht irgendein Musical. Und es kommt noch etwas hinzu: Im Sommer hatte Kosky, unter anfänglichen Schmerzen und Schwierigkeiten, bei den Bayreuther Festspielen Premiere mit den „Meistersingern von Nürnberg“ von Richard Wagner, wo der Mob zwischendurch halb Nürnberg zerlegt. Kosky wusste um das Stück immer einen Bogen zu machen, stellte sich dann aber doch der Problematik, ließ den ersten Aufzug als hochüberdrehte Familienposse spielen, um endlich umzuziehen in den Hauptsaal der Kriegsverbrecherprozesse von 1946. Das war so mutig wie einleuchtend. Kein Werk ist einfach nur ein Werk an und für sich. Es muss durch die Zeiten dekliniert werden.