Man kennt die Geschichte. Man weiß von Anfang an, dass sie schlecht ausgeht. Und trotzdem schaut man drei Stunden lang gespannt zu. Das Stuttgarter Musical „Der Glöckner von Notre Dame“ ist ein großes Theaterfest – grandios!

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Auf Disney ist einfach Verlass. Es braucht nur die ersten rund zehn Minuten in diesem Musical, und schon ist der Zuschauer wie magnetisch eingesogen in eine Geschichte, eine eigene Welt. Auf die Bühne ziehen singende Mönche, aus den Mönchen werden Figuren, die Figuren beginnen zu erzählen, verwandeln sich, verändern die Kulisse, schaffen eine andere Zeit, entfalten die ganze Vorgeschichte des großen Dramas, um das es nun gehen soll. Zehn Minuten, um alles außerhalb des Theaters vergessen zu machen und den Zuschauer nur noch auf all das zu konzentrieren, was vorn geschieht. Ja, das möchten gerne alle Musicals schaffen. Aber bei den Disney-Musicals, da klappt’s.

 

Zum Schluss dieser schon wunderbaren ersten zehn Minuten – Achtung, Spoiler, wir verraten jetzt eine erste Pointe des Abends, aber sie steht halt für die Botschaft des ganzen Projekts – verwandelt sich vor unseren Augen ein stattlicher Musicaldarsteller nur durch ein wenig Schminke, ein künstliches Polster unter der Jacke und die entsprechende Körperhaltung in ein . . . tja, ein „Monster“ muss man in der Logik des Werkes wohl zunächst sagen – eben in den „Glöckner von Notre Dame“, einen schon als Säugling körperlich anders als die meisten anderen Säuglinge gestalteten Menschen, der von anderen Menschen, die das falsch verstehen, als „Produkt der Sünde“, als „Kind der Nacht“ verteufelt wird und darum ein einsames Leben hoch über den Dächern von Paris fristen muss, im Glockenturm von Notre-Dame.

Der ganze Zauber steht im Dienst der Geschichte

Aber die Geschichte von Quasimodo, seinem bigotten Ziehvater, Erzdiakon Frollo, der Zigeunerin Esmeralda und dem Hauptmann Phoebus ist ja dank Literatur und Film längst Populärkultur, wir müssen hier nicht in die Details. Entscheidend ist – und da können wir auch wieder nur sagen: Auf Disney ist Verlass –, wie die Autoren und Komponisten Alan Menken, Stephen Schwartz und Peter Parnell den ollen Schinken des Erfinders Victor Hugo so zuspitzen, dass daraus eine Geschichte wird, die uns Zuschauer auch heute trifft: Es geht in ihrem Musical eben auch um die Angst vor dem anderen, dem Fremden, es geht um Bigotterie, es geht um Aggression und Gewalt, die entsteht, weil man die eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu unterdrücken versucht. Aus der Angst vor sich selbst schickt man das Andere ins Feuer.

Und wie das nun aber hier drei Stunden über die Rampe kommt, das ist schönstes, herrlichstes Theater, wunderbar erzählt, reduziert auf den klassischen Kern: eine Bühne, ein Gerüst, ein paar Kulissen und Requisiten, die ständig umfunktioniert werden, das ist Licht, das ist Bewegung, das ist nicht die Überwältigungsmaschinerie anderer Produktionen, sondern die Magie des Spiels. Der ganze Zauber, der hier betrieben wird, steht stets im Dienst der Geschichte, die dem Zuschauer erzählt wird, als würden wir unter freiem Himmel auf einem Marktplatz einer wandernden Theatertruppe zuschauen. Der Regisseur Scott Schwartz zeigt, dass Perfektion, wenn sie Ziel und Haltung hat, mithin Seele, die wahre Frische bringt.

David Jakobs ist der Held des Abends

Und auf Stage Entertainment ist eben auch Verlass. Das Unternehmen hat für Stuttgart ein wunderbares Ensemble zusammengestellt, mit starker Technik, aber auch mit Kunst – bis hin zum aus Laien zusammengestellten Chor im Hintergrund. Über Mercedesz Csampai als Esmeralda, Maximilian Mann als Hauptmann und Felix Martin als Erzdiakon wäre viel Gutes zu schreiben. Aber sorry, wir brauchen den Platz für David Jakobs, den Quasimodo: Andacht und Verehrung! Der 34-jährige Absolvent der Folkwang-Schule trifft einen Ton, eine Haltung, schafft eine Präsenz, die ihn zum Helden dieses Abends machen, obwohl er so gar nicht auftreten kann wie der übliche Musicalheld. Der Kritiker bekennt: Jakobs Spiel bewegt, räusper räusper, tief, da muss man gar nicht so ganz nah am Wasser gebaut sein . . .

Und zum Ausklang noch ein Spoiler, Achtung: Im Finale sind es dann die anderen Darsteller, die sich vor unseren Augen mittels Schminke und Körperhaltung in etwas anderes verwandeln. Und just in diesem Moment, da plötzlich alle anders sind, kann Quasimodo sich wieder aufrichten, kann sich im Hintergrund die Kulisse öffnen, kann das Musical zeigen, dass es aus diesem glänzend unterhaltenden Abend mit nichts weniger als einer, jawohl, humanistischen Haltung ins Hier und Jetzt tritt. Triumph des Theaters. Respekt!