„Musik am 13.“ Meister an der Orgel

Komponist und Organist Jean-Pierre Leguay Foto: Veranstalter/Roberto Bulgrin

In der Cannstatter Reihe „Musik am 13.“ war der französische Komponist und Organist Jean-Pierre Leguay zu Gast.

Es ist, als habe er den langen Nachhall, den Kirchenräume mit sich bringen, in seine Werke einkomponiert. Oft stört dieser Kirchenhall, neigen komponierte Strukturen doch dazu, darin zu verschwimmen. In den Werken von Jean-Pierre Leguay aber gehen Töne und Hall eine mystische Einheit ein. Und gerade, wenn es Solostücke sind wie „In illo tempore“ (In jener Zeit) für Klarinette solo (Dirk Altmann) – eine wahrlich metaphysische Vogel-Arie – wird das langsame Verhallen eines Tones zum Ereignis.

 

Kein Wunder. Der französische Komponist – geboren 1939, Schüler des komponierenden Ornithologen Olivier Messiaen – war von 1985 bis 2015 Titularorganist der Pariser Kathedrale Notre Dame – international eine der prestigeträchtigsten Orgelstellen. Musik in kathedrale Weiten zu schicken, gehört also zum Kern seiner Identität. Hörbar in der Cannstatter Reihe Musik am 13., die Leguay in der gut besuchten Stadtkirche ihr 21. Komponistenporträt widmete. All die großen Namen waren hier schon zu Gast: von Adriana Hölszky, Wolfgang Rihm, Krzysztof Penderecki über Pēteris Vasks bis hin zu Younghi Pagh-Paan, Helmut Lachenmann oder Sofia Gubaidulina. Während Jean-Pierre Leguay in der avantgardistischen Musikszene Frankreichs eine Koryphäe ist, besonders was die Orgel- und Kirchenmusik betrifft, dürfte er hierzulande freilich den wenigsten Musikinteressierten bekannt sein.

Legendäre Improvisationen

Das liegt daran, dass in Frankreich ein wesentlich höheres öffentliches Interesse an solistischer Orgelmusik besteht, das durch nationale Institutionen wie das Conservatoire de Paris, das viele weltberühmte Organisten hervorgebracht hat, befeuert wird. Man begeistert sich fürs Improvisieren an der Orgel, und Leguay zählt zu den Meistern dieser Kunst. In Deutschland dagegen ist die Rolle der Orgel eng mit der liturgischen Praxis verbunden, weswegen Organisten meist auch als Kirchenmusiker tätig sind – mit vielfältiger Verantwortung für Chor, Gottesdienste und Gemeindeleben. Wie etwa der künstlerische Leiter von Musik am 13. Jörg-Hannes Hahn.

Klar, dass Leguay in der Stadtkirche eine Kostprobe seiner legendären freien Orgelimprovisationen gab, für die er berühmt ist: aus der Stille sich aufbauend, mal zart gezeichnet, glitzernd-glucksend, parlierend, Klänge, die sich oft wie Farbtropfen in Wasser ausbreiten, dann ab- und aufwärts wandern oder kriechen, Registermischungen aus näselnden, glockigen, brummenden, plätschernden Stimmen, die immer dichter werden. Plötzlich erklingt eine entbeinte Melodie, alles füllt sich wieder mit Farben, um sich dann in Ewigkeitsklängen zu verabschieden.

Immense Vorstellungskraft

Solche pralle, kontrastreiche Farbenvielfalt als Struktur, die sehr französisch ist und auf einer ganz eigenen freitonalen, dissonanzenreichen Harmonik aufbaut, prägen auch die Kompositionen des heute 86-Jährigen. Sein Oeuvre umfasst viel Orgelmusik, aber auch Vokalmusik und ein umfangreiches Kammermusikschaffen, aus dem vier Werke aufgeführt wurden, darunter zwei Uraufführungen.

Im Gespräch mit der Moderatorin Martina Seeber ging es dann vor allem um das, was man hört. In „À deux“ (Zu zweit) von 2023 dient die Klavierstimme (Sabine Sauer) natürlich nicht der bloßen Begleitung, sondern sie ergänzt sich farblich perfekt mit dem Vibraphon (Lucas Gérin), ja, spiegelt dessen Seele, ummantelt seine expressiven Äußerungen oft mit warmen Farben. In „Le matin sûrement va venir“ (Der Morgen wird sicher kommen) haben Altsaxophon (Elliot Riley), Klavier und Schlagzeug die meditativen Qualitäten eines sehr lange herausgezögerten Aufhörens auszureizen. Während in „Passegiata“ (Spaziergang) die unterschiedlichen Spielarten des Cellos (Bernhard Löcher) für expressive Spannung sorgen.

Schade, dass im Gespräch nicht auf die Tatsache eingegangen wurde, dass Leguay von Geburt an blind ist. Wie hat er seinen kompositorischen Alltag über die Jahre gemeistert? Was hilft ihm bei der schriftlichen Fixierung seiner Werke? Die aufwendige Braillenotenschrift? Neue digitale Techniken? So oder so. Die musikalische Vorstellungskraft des Meisters muss immens sein.

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