Der Marbacher Mazen Mohsen kämpft um die Sicherheit seiner Eltern und seiner Schwestern. Die gehören der religiösen Minderheit der Drusen an und sind auf der Flucht vor Islamisten.

Ludwigsburg: Karin Götz (kaz)

Als Mazen Mohsen vor fünf Monaten ein paar Tage nach seinem 31. Geburtstag in die Redaktion unserer Zeitung in die Ludwigsburger Innenstadt kam, erzählte der Syrer von Hoffnung. Von einem Traum, der endlich wahr geworden ist. Islamistische Kämpfer hatten die Kontrolle über Damaskus übernommen. Nach 13 Jahren Bombardierung, Unterdrückung und einem Bürgerkrieg mit Hunderttausenden Toten und Millionen Vertriebenen war die Herrschaft von Bashar al-Assad Geschichte.

 

„Die Revolution hat es geschafft, das grausame Regime zu stürzen“, sagte Mohsen damals. Ein Regime, vor dem der Syrer vor neun Jahren geflüchtet war. Doch in die Hoffnung auf ein modernes, säkulares, demokratisches Syrien mischte sich schon im Dezember die Sorge vor einem Sieg der Islamisten und neuer Gewalt, deren Opfer die ethnischen und religiösen Minderheiten in seinem Heimatland sein würden.

Heimatstadt traf es Ende April

Wie berechtigt diese Sorge war, zeigt sich jetzt. Im März verübten Kämpfer der islamistischen Übergangsregierung ein Massaker an Hunderten Alawiten. Beobachter sprachen von einer ethnischen Säuberung. Am 29. April traf es die Stadt Sahnaya, etwa 15 Kilometer von Damaskus entfernt. Mohsens Familie – Mutter, Vater und die drei erwachsenen Schwestern – leben dort. Laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden mehr als 100 Menschen getötet.

„Meine Familie ist in akuter Lebensgefahr“, sagt der 31-Jährige und in seiner Stimme liegt Verzweiflung. Seine Familie gehört der drusischen Minderheit an. Eine Minderheit, gegen die die Islamisten systematisch vorgehen, denn in ihren Augen sind die Mitglieder der Religionsgemeinschaft Ungläubige.

Maze Mohsen macht sich große Sorgen um seine Familie. Zum Schutz haben wir die Gesichter verpixelt. Foto: privat

Etwa eine Million Drusen gibt es weltweit. Rund 700 000 von ihnen leben in Syrien. Dort machen sie circa drei Prozent der Bevölkerung aus. Drusen leben darüber hinaus in Israel, Jordanien und im Libanon. Eins ihrer bekanntesten Mitglieder ist Anwältin und Menschenrechtsaktivistin Amal Clooney, die Ehefrau von Hollywoodschauspieler George Clooney.

Mohsens Vater war zum Zeitpunkt der Angriffe bei seinem Bruder in Dscharama, einem Stadtviertel von Damaskus, in dem viele Drusen leben. „Er konnte drei Tage lang nicht zur Familie zurück, aber er organisierte die Flucht meiner Schwestern aus der umkämpften Stadt heraus“, erzählt Mohsen. Die beiden Jüngeren leben bei Christen in Damaskus. Die ältere Schwester und ihr Mann in einer kleinen Wohnung in einem sunnitischen Viertel. „Sie verstecken sich in den Wohnungen.“

Auch wenn die drei Schwestern im Moment in Sicherheit sind – der 31-Jährige weiß, dass ihn jede Sekunde eine Hiobsbotschaft aus der alten Heimat erreichen kann. An ruhigen Schlaf ist nicht zu denken. Jede Stunde versichern sich die Familienmitglieder in einer Chatgruppe auf Whatsapp gegenseitig, dass alles okay ist – soweit davon überhaupt die Rede sein kann.

Schreckliche Nachrichten aus der alten Heimat

Den 81-jährigen Vater eines Freundes haben die Islamisten verhaftet, erzählt Mazen Mohsen. „Nach einer Woche kam er zurück zu seiner Familie als gebrochener Mann. Er wurde erniedrigt und gefoltert.“ Der Cousin eines anderen Freundes wurde getötet. Schreckensnachrichten, die es dem Syrer schwer machen, an das Gute zu glauben und an der Hoffnung festzuhalten. Vor allem, wenn er in den sozialen Medien sieht, was der religiöse Fanatismus anrichtet. „Die Kämpfer wollen den Islamischen Staat wieder aufbauen. Sie kündigen in Videos an, dass sie Ungläubige abschlachten und filmen ihre Gräueltaten dann. Es ist unmenschlich und fast nicht auszuhalten.“

Der Blick aufs Smartphone gehört zum Alltag. Jede Stunde versichern sich die Familienmitglieder, dass nichts passiert ist. Foto: Simon Granville

Doch der studierte Musiker, der in Marbach eine neue Heimat gefunden hat, hält es aus: die Wut, die Verzweiflung, die Hilflosigkeit. Tag für Tag. Stunde für Stunde. Und auch wenn er weiß, dass er nicht viel tun kann, versucht er den Blick auf das Schicksal der Minderheiten zu lenken. „Die neue Bundesregierung hat einen Aufnahmestopp verhängt. Das macht die Situation nicht einfacher“, sagt Mohsen. Dennoch will er versuchen, von Deutschland aus, die Ausreise der Schwestern in ein anderes Land zu organisieren. „Vielleicht finde ich ja jemanden, der mich unterstützt.“

Auch Amal Clooney möchte der Marbacher anschreiben. „Das klingt vielleicht verrückt, aber es ist ein Strohhalm. Sie ist berühmt und vielleicht setzt sie sich ja dafür ein, dass Israel und der Libanon ein Aufnahmeprogramm für Drusen aus Syrien starten. Dann könnte ich wieder ruhiger schlafen.“

Neuanfang in Deutschland

Religion
Der Glaube der Drusen ist von schiitischen Traditionen geprägt, doch die Unterschiede zum Islam sind groß. Drusen glauben an die Wiedergeburt und an eine Vorbestimmung. Missionierung oder Konvertierung lehnen sie ab.

Flucht
Mazen Mohsen war bei seiner Flucht 13 Tage unterwegs. Auf einem Schlauchboot auf dem Mittelmeer war er dem Tod näher als dem Neuanfang in einem fremden Land. Seit 2018 lebt er in Marbach. Seit 2023 ist er eingebürgert. Im September 2019 rettete er am Ludwigsburger Bahnhof einer Mutter und ihrem Sohn das Leben und erhielt dafür von der Stadt einen Preis für Zivilcourage.