Das Abschlusskonzert des Musikfests mit Werken von Schubert und Mahler lässt viele Wünsche offen – trotz eines gut disponierten Orchesters.

Stuttgart - Es geschieht gegen Ende des dritten Satzes von Gustav Mahlers vierter Sinfonie. Man hat sich schon darauf eingestellt, dass der Satz in einem sanften pianissimo, quasi morendo, verebben wird, so wie viele andere langsame Mahler-Sätze auch, doch dann, wie aus dem Nichts, bricht ein Fortissimo aus – mit aufrauschenden Harfen und entfesselt arpeggierenden Streichern, eine orchestrale Entladung, die genauso abrupt endet, wie sie begonnen hat. Diese Eruption lässt sich unterschiedlich deuten – als ironischen „Durchbruch“, als Vision – doch selbst wenn man darum weiß, wirkt sie immer wieder wie ein Schock. Insofern kann man nur rätseln, warum beim Abschlusskonzert des Musikfests Stuttgart die Sopranistin Hanna Elisabeth Müller ausgerechnet an dieser Stelle quer durchs Orchester hindurch auf die Bühne schreiten musste – gerade so, als wäre das verstörende Orchestertoben eine festliche Auftrittsmusik. In der Satzpause wäre dafür genug Zeit gewesen.

 

Nun bietet gerade Mahlers vierte Sinfonie reichlich Anlass für Missverständnisse. In keiner anderen Sinfonie hat der Komponist das Spiel mit der Uneigentlichkeit derart auf die Spitze getrieben: kaum etwas ist hier unverstellt gesagt, die Wahrheit, so es eine gibt, lauert versteckt hinter all den Stilmasken, zwischen Kinderlied, Todesfiedel und (falschem) Walzerwiegen – ja, diese Vierte ist eine einzige, große Eulenspiegelei, an die gleich das Schellengeklingel der Narrenkappe zu Beginn mahnt.

Erlösungsvisionen und blutige Realität

Ein Glaubensbekenntnis, wie es die Auswahl des Stückes zum Abschluss des dem Glauben gewidmeten diesjährigen Musikfests nahelegt, ist die Vierte aber erst recht nicht. Denn im letzten Satz schließt Mahler die naiven Erlösungsvisionen mit der blutigen Realität zusammen: den Preis für die „himmlischen Freuden“, von denen der Sopran kündet, müssen die armen, zur Schlachtbank geführten Tiere zahlen: „Sanct Lucas den Ochsen tät schlachten ohn’ einig’s Bedenken und Achten“ – auch im Jenseits hört das Töten und Quälen nicht auf.

Dieses Finale immerhin geriet im Beethovensaal überzeugend. Denn Hanna Elisabeth Müller besitzt einen glockenklaren, leicht geführten Sopran und sang mit jenem kindlich-naiven Ausdruck, den sich Mahler vorgestellt hatte – das neckische Auf-die-Oberlippe-beißen dazu hätte sie sich freilich sparen können. Außerdem zeigte der Dirigent Michael Sanderling Mut zur Drastik: das die behaglich schunkelnden Verse konterkarierende Orchestergelächter ließ er vom Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR ohne falsche Scheu ausspielen, mit hämisch kreischenden Klarinetten und schrillen Piccolos. Insgesamt allerdings blieben viele Wünsche offen an diesem Abend.

Der sinfonische Fluss stockt immer wieder

Und das lag vor allem am Dirigenten. Nicht, dass Sanderling die Mahler’schen Partituranweisungen missachtet hätte: aber vieles – wie etwa die ständigen Tempowechsel im ersten Satz – erschien zwar vordergründig durchaus korrekt ausgeführt, aber nicht aus einer übergreifenden Haltung heraus motiviert, die die Details mit dem Kontext des Satzganzen heraus hätte vermitteln können.

Außerdem neigt Sanderling dazu, in langsamen Sätzen bis zur Zähigkeit auszuphrasieren. Der dritte Mahler-Satz zerfiel ihm so gleich zu Beginn, aus dem Poco adagio wurde ein Molto adagio, und selbst wenn einzelne Stellen berückend gelangen – was auch am gut disponierten Orchester lag – so überwog insgesamt doch der Eindruck von Stückwerk.

Das gilt auch für das erste Werk des Abends, Schuberts Sinfonie h-Moll, die „Unvollendete“. Das Stück muss ja nicht gleich in historisch-kritischer Manier gegen den Strich gebürstet werden, aber ein wenig mehr an innerer Bewegtheit und dramatischer Zuspitzung hätte es schon sein dürfen. Sanderlings Stärke ist das Denken in Linien, das differenzierte Phrasieren: doch schon im Allegro moderato kam der sinfonische Fluss immer wieder ins Stocken, und das Andante kam vor lauter lyrischem Innehalten kaum vom Fleck. Von der Unbehaustheit dieser Musik – ihren hinter Fortissimoschlägen lauernden Abgründen, der in Generalpausen sich öffnenden Verlorenheit – war hier wenig zu spüren.