Die Kombination von Bachs Motette „Ich habe genug“ mit Anton Bruckners letzter Sinfonie war trotz Beteiligung des Starbaritons Christian Gerhaher kein Publikumsmagnet. Und die Darbietungen des Gustav-Mahler-Jugendorchesters unter Philippe Jordan warfen viele Fragen auf.

Stuttgart - Ups, was ist denn das? Da krempelt der künstlerische Leiter der Internationalen Bachakademie Stuttgart, Hans-Christoph Rademann, seine Ensembles in eine Richtung um, die man heute als historisch informierten Aufführungspraxis bezeichnet, besetzt sie mit neuen Musikern und alten Instrumenten, beweist mit Monteverdis „Marienvesper“ im Eröffnungskonzert zum diesjährigen Musikfest Stuttgart seine Kompetenz für die eingeschlagene ästhetische Neuorientierung – und lässt zwei Tage nach dem klingenden Initial einer neuen Ära Bach vom Gustav-Mahler-Jugendorchester auf modernen Instrumenten spielen. Bei ein und demselben Festival in ein und demselben Saal. Nein, das geht gar nicht. Selbst der Universalkitt des Mottos „Reichtum“, der 2016 viel Buntes zusammenfügt, taugt da nicht als argumentative Unterfütterung.

 

Auch manches andere geht am Sonntagabend im Beethovensaal gar nicht, aber dazu später, denn zuvor muss noch angemerkt werden, dass die Kombination von Bach und Bruckner beim Stuttgarter Publikum trotz des prominenten Bariton-Solisten Christian Gerhaheroffenbar nicht sonderlich punktet: In den Stuhlreihen klaffen deutliche Lücken. Und am Ende rufen ein paar Unzufriedene von hinten laut „Buh!“ in den Saal.

Christian Gerhaher begreift Bachs Kantate als gewaltige Steigerung von Ausdruck und Dynamik

Da ist das abschließende Adagio von Bruckners unvollendeter neunter Sinfonie gerade verklungen, ein erst traurig suchender, schließlich aber in eine E-Dur-Heilsgewissheit umschlagender Satz, dessen kaum glaubhafte Schluss-Euphorie als dramaturgische Brücke zu der Kantate „Ich habe genug“ (BWV 82) verstanden werden kann. Zumindest an diesem Abend, denn Christian Gerhaher begreift Bachs Stück als gigantische Steigerung von Ausdruck und Dynamik: Fahl und resignativ beginnt er die erste Arie, und immer wieder nimmt er um dieses Ausdrucks willen eine nur ungefähre Intonation und Farbgebung in der Tiefe in Kauf.

Das ist ein hohes Risiko, weil mancher diese Mattigkeit als vokale Schwäche auslegen dürfte. Aber der Bariton interpretiert das Stück nicht nur, sondern durchlebt, durchleidet den Abschied eines Menschen von der Welt. Bis hin zum abschließenden „Ich freue mich auf meinen Tod“, das wie trotziger Jubel klingt – ja sogar ein wenig ironisch, sodass man versteht, warum sich der Sänger und der ihn wundervoll zärtlich umspielende Oboist Bernhard Heinrichs danach munter lachend vor dem Publikum verbeugen.