Zwei Konzerte: beim einen zeigt Joris Verdin, was im oft unterschätzten Harmonium steckt, beim anderen verfehlen Urs Liska und seine Mitstreiter Julia Stemberger, Julian Prégardien und Claudia Barainsky Schuberts Liedkunst.

Stuttgart - Die Älteren kennen es vielleicht noch aus dem Konfirmandenunterricht, für die Jüngeren ist es ein Exot – das Harmonium. Beide Generationen konnten es beim Konzert des belgischen Organisten Joris Verdin in den Wa-genhallen bestaunen. Einst war das Instrument – dem Aussehen nach einem Klavier, dem Klang nach eher einer Orgel ähnlich – als Orgelersatz im kirchlichen Bereich weit verbreitet und musste sich Spitznamen wie „Methodisten-Quetsche“ oder „Hallelujapumpe“ gefallen lassen. Jedem Westernfan ist es geläufig, denn zeitweise wurden in den USA mehr solcher „cottage organs“ als Klaviere gebaut. Der weiche, ätherische, durch den Luftdruck erzeugte Klang hat auch die Komponisten gereizt. Rossini verwendet es in der „Petite Messe Solenelle“, Dvorak in den „Bagatellen“, Richard Strauss in „Ariadne auf Naxos“, Schönberg in den „Herzgewächsen“.

 

Dass es sich als selbstständiges Konzert-instrument behaupten kann, hat Joris Verdin, der sich seit langem für das vergessene Instrument einsetzt, mit einem bunten Programm von Originalkompositionen be-wiesen. Einer der ersten, der für das in den Pariser Salons verbreitete Konzertharmonium schrieb, war Georges Bizet. Seine beiden „Esquisses musicales“ sind, wie auch Alexandre Guilmants virtuoses „Scherzo“ im Mendelssohn-Ton, gefällige Charakterstücke. Schwungvoll tänzerisch geht es dagegen in Camille Saint-Saëns‘ „Barcarolle“ und erst recht in Louis Lefébure-Wélys „Rhapsodie espagnole“ zu. Den ganzen Zauber der Klang- und Registriermöglichkeiten entfaltete Verdin in Jules Mouquets reizvoll barockisierendem „Rigaudon“ sowie in Théodore Dubois’ „Pastorale (avec orage)“. Dubois unterbricht die arkadische Hirtenweise mit einem Donnergrollen tiefer Tontrauben, das selbst die manchmal ärgerlichen Störgeräusche der vorbeirau-schenden Stadtbahn übertönte.

Höhepunkt des Programms aber waren doch die beiden Kompositionen des aus Oberndorf am Neckar stammenden Sigfrid Karg-Elert, eine dem Geist Bachs verpflich-tete „Ciaconna con variazioni“ aus der dritten sowie die zweite Harmonium-Sonatine. Karg-Elert, der auch Lehrwerke zum Harmoniumspiel verfasste, reizt hier die Re-gistrier- und Klangmöglichkeiten des Instruments in all ihren Facetten aus – sinfonisch aufrauschend und doch zugleich barock gehärtet in der „Ciaconna“, spätromantisch aufgelockert in den drei Sonatinen-Sätzen. So war das Konzert ein kleiner, feiner, aber bemerkenswerter Farbtupfer im Musikfest-Programm. Schade nur, dass Joris Verdin das mitgebrachte Instrument seinem fasziniert zuhörenden Publikum nicht auch ein wenig erklärt hat!

Elf Lieder nach Schlegels Zyklus „Abendröte“

In eine gänzlich andere und doch in manchem nahe verwandte musikalische Welt führte die Schubertiade, die Urs Liska aus Texten, Liedern und den Sätzen der Klaviersonate A-Dur D 664 zusammengestellt hat. Ausgangspunkt waren die elf Lieder, die Schubert 1819/20 auf Gedichte von Friedrich Schlegels Zyklus „Abendröte“ komponierte. Sie gehören, zusammen mit den gleichzeitig entstandenen Novalis-Vertonungen, zu den weniger bekannten Schubert-Liedern. Bei Schlegel wird der Dichter zum Priester einer ästhetischen Naturanschauung im Sinne der romantischen Poetisierung der Welt. Das gibt nicht nur den Texten eine gewisse Sprödheit, sondern führt auch Schubert zu einer oft wenig lyrischen Reflexivität, der die Liebe als emotionale Antriebskraft fehlt. Möglicherweise hat er deswegen die Vertonung des Liederkreises abgebrochen und nicht zu Ende geführt.

Im Stuttgarter Konzert bildeten Schlegels 22 Gedichte – gesprochen von Julia Stemberger – den Rahmen, in den die vertonten Lieder eingefügt waren. Gewissermaßen kommentiert wurden sie durch die drei an den Anfang, in die Mitte und ans Ende gestellten Sonatensätze. Dass das nicht so aufging wie erhofft, lag weniger an der Idee als an der Ausführung. Julia Stemberger wollte es Schubert nachmachen und usurpierte in ihrer Rezitation den vokalen Gestus auf eine manierierte und outrierte Weise, die mehr als einmal die Grenze zur unfreiwilligen Parodie überschritt. Von den beiden Vokalsolisten war der junge, hochbegabte Julian Prégardien der bessere Sänger, Claudia Barainsky die bewusstere, nachdrücklichere Gestalterin. Prégardien sang mit ansprechendem, klangvoll moduliertem, in der Tiefe manchmal etwas sprödem Ton oft über die philosophisch-literarische Sinnsuche der Texte hinweg, während Barainsky ihre nicht nur in der Höhe angestrengt klingende, zu heftigem Vibrato neigende Stimme nicht in den Griff bekam.

Auch mit Liskas Klavierspiel wurde man nicht glücklich. So zuverlässig er sich als Liedbegleiter erwies, so sehr enttäuschte er als Solist. Das lag gewiss auch am Auseinanderreißen der Sätze, bei denen sich der Übergang vom liedhaft schlichten Mittel- zum perlenden Schlusssatz nach einer halbstündigen Unterbrechung einfach nicht mehr einstellen will. Dazu fehlte seinem Anschlag, vor allem im ersten Satz, der manchmal arg holprig und steif klang, die nuanciert schwärmerische Poesie. Das Stück ist schwer, gerade weil es zu seiner Gestaltung keiner großen Virtuosität bedarf, aber doch des „leisen Tons, für den, der heimlich lauschet“, wie es im vielleicht schönsten der Schlegel-Gedichte heißt.