Daniel Barenboim hat mit seinem West-Eastern Divan Orchestra das Stuttgarter Musikfest eröffnet. Mit Verdi, Wagner und zwei zeitgenössischen Werken zeigt der große Kosmopolit unter den Dirigenten, wie der Dialog gelingen kann – musikalisch.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Das war für die Stuttgarter Bachakademie ein Auftakt nach Maß: Der neue Intendant Gernot Rehrl konnte am Donnerstagabend seine kleine Begrüßungsrede im restlos ausverkauften Beethovensaal der Liederhalle halten; in den vorderen Reihen gaben sowohl Ministerpräsident Winfried Kretschmann als auch Oberbürgermeister Fritz Kuhn dem Ereignis die Ehre. „Wir wollen mit dem Musikfest Kontakte knüpfen tief hinein in die Stuttgarter Stadtgesellschaft“, sagte Rehrl. Mit welchen Namen und welchem Programm man dies gleich zum Auftakt schafft, dafür hatte die neue Leitung der Bachakademie den richtigen Riecher und eine glückliche Hand.

 

Natürlich schmückt es jedes Festival, wenn Daniel Barenboim, eine der wichtigsten und beeindruckendsten Künstlerpersönlichkeiten unserer Tage, mit seinem israelisch-palästinensisch-arabischen West-Eastern Divan Orchestra vorbeischaut. Bereits bei ihrem Einzug wurden Dirigent und Ensemble mit besonders herzlichem Beifall begrüßt. Barenboims Idee ist ja auch an sich schon ein Kunststück: Jeden Sommer kommen junge Musiker aus dem Nahen Osten und aus Spanien in Sevilla zusammen, um ein Programm einzustudieren, mit dem es dann auf Tournee geht. Das gemeinsame Musizieren über die politischen Gräben hinweg soll ein Bild dafür geben, welch ein Ertrag uns allen winkt, wenn an die Stelle von Abgrenzung, Unterdrückung und Gewalt das Gespräch und die zielorientierte Arbeit treten.

Es gibt Kritiker, die Barenboim oberflächliche und nutzlose Symbolpolitik nach Gutmenschenart vorwerfen. Diese Kritiker verkennen vieles – zum Beispiel, dass die schärfsten Gegner des West-Eastern Divan Orchestra im Nahen Osten selbst sitzen, nämlich überall dort, wo die Hardliner aller Lager per se jedes gemeinsame Projekt als Verrat an der eigenen, weil heiligen Sache begreifen. Deswegen bedeutet es für jeden Musiker von vornherein einen höchst bedeutsamen und für uns bemerkenswerten Schritt, sich zur Mitarbeit in diesem Orchester zu entschließen.

Ein Multikulti-Klagkörper mit fabelhaftem Spiel

Vor allem aber sollte niemand glauben, bei einem solchen Orchesterprojekt käme schlussendlich politisch begrüßenswerte, aber eben künstlerisch nur mediokre Musik heraus. Solche Zweifler kennen Meister Barenboim offenbar schlecht. In Stuttgart jedenfalls wurde bereits nach wenigen Konzertminuten klar, dass der Dirigent auch diesem so erfrischend jungen und bunten Multikulti-Klangkörper ein fabelhaftes Spiel entlocken kann.

Dieser Mann ist wirklich in vielerlei Hinsicht ein Phänomen. Vor gerade vier Wochen hat er mit seiner Berliner Staatskapelle in der Royal Albert Hall in London den kompletten Wagner-„Ring“ konzertant aufgeführt. Der BBC-Kritiker verlieh sogleich den Titel „Konzerte des Jahrhunderts“; man ahnt die Anstrengungen eines solchen Großgastspiels. Irgendwann nach diesem Kraftakt ist es ihm in Sevilla gelungen, auch in diesem Jahr seiner Divan-Truppe den so typischen Barenboim-Sound zu verpassen: große Linien, präzise Melodieführung, wunderbare Streicher- und Bläserklänge, klarer Sinn für die Zuspitzung, das Dramatische, den alles entscheidenden Punkt – und doch nie einfach effektheischend oder pathetisch hohl. Nein, sie treffen stets den jeweiligen Nerv der Musik – und damit unseren.

Kein hohles Pathos und keine Effekthascherei – trotz der beiden Programmschwerpunkte Verdi und Wagner, die man bekanntlich so viel einfacher und jubelsicherer haben könnte. Der erste Teil des Stuttgarter Abends war dem Italiener gewidmet – die Ouvertüren zur „Sizilianischen Vesper“ und zur „Macht des Schicksals“ sowie die Vorspiele zum 1. und 3. Akt der „Traviata“. In jedem dieser an sich ja kleinen Werke arbeitete Barenboim die ganze, große italienische Oper heraus, sehnsuchtsvoll, pulsierend, tragisch, furios. Die ersten langsamen, wehen Takte zum „Traviata“-Vorspiel lässt er die Musiker gar so schwebend, zunächst unbestimmt und filigran angehen, dass der Zuhörer einen Moment glaubt, im Programmzettel verrutscht zu sein – sind wir vielleicht doch schon beim deutschen Wagner?

Das Thema Wagner ist abgehakt

Nein, der kam dann wirklich erst im zweiten Teil, mit den Vorspielen zum „Parsifal“ und zu den „Meistersingern“. Über das weiterhin schwierige Thema, von und mit israelischen Musikern diese Musik zu spielen, ist im Wagner-Jubiläumsjahr wieder viel geschrieben worden. Nehmen wir derweil zur Kenntnis: für Daniel Barenboim und für dieses Orchester ist das Problem mit dem ewigen Antisemiten abgehakt. Und natürlich hören wir hier die ganz große Wagner-Form, weit ausholend, auch prangend. Aber Barenboim befragt alle Noten nach der ihnen eigenen Wahrhaftigkeit, und deswegen ist sowohl den Erlösungsklängen dieses „Parsifals“ als auch dem Festwiesenwirbel der „Meistersinger“ jeder oberflächliche Protz völlig fremd.

In beide Programmteile hat Barenboim sodann ein Stück zeitgenössischer Musik montiert – ein Umstand, der zum wohl einzigen Manko dieses Abends führte, nämlich angesichts der kleinen Bühne im Beethovensaal zu recht langen und aufwendigen Umbaupausen.

Die Kunst macht es vor

Bei „Que la lumière soit“ des jordanischen Komponisten Saed Haddad standen die mal sanften, dann wieder scharfen Trompetenlinien der beiden Solisten Bassam Mussad und Jaume Gavilán Agulló im spannungsvollen Dialog zur gerade noch gehörten Verdi-Pracht. Die israelische Komponistin Chaya Czernowin ließ derweil die Musiker für ihr Stück „At the fringe of our gaze“ einen schier endlosen, düster-tremolierenden Klangteppich weben, voll wundersamer, irritierender Töne und Geräusche, der den aufmerksamen Zuhörer erst schreckte und dann mitzog. Scharf und sehr weh waren da jene kurzen Augenblicke, wenn in all diesem Beunruhigenden einige Streicher plötzlich Fragmente melodiöser Harmonien einbrachten.

Neben dem Musikalischen faszinierte aber auch der Gesamteindruck dieses Orchesters und seines Dirigenten. Dessen lebendiger Kontakt zu den Musikern war bewegend, und bei aller Ernsthaftigkeit des Vortrags blieb immer noch Gelegenheit für den einen oder anderen augenzwinkernden mimischen Austausch zumindest mit den Streichern. Auf zwei Stunden geplant, endete der wunderbare Abend dann doch erst nach dreieinviertel und dem Vorspiel zum dritten „Meistersinger“-Akt als Zugabe. Das Publikum dankte mit großem Beifall und vielen Bravorufen. Was das gemeinsame Gespräch doch bewirken kann – die Kunst macht es vor. Ob es die Politik jemals lernen wird? Ob sie es überhaupt will? Daniel Barenboim jedenfalls hält daran fest. Alle Achtung, wem Achtung gebührt.