Helmuth Rilling dirigiert in Stuttgart Mendelssohns Oratorium „Paulus“. Die Aufführung markierte den Auftakt für das diesjährige Musikfest, das sich in den kommenden drei Wochen mit dem Thema „Glaube“ auseinandersetzt.

Anno Stuttgart - 1829 setzt Felix Mendelssohn Bartholdy mit der Aufführung von Bachs „Matthäuspassion“ die Bach-Renaissance in Bewegung, vordergründig betrachtet. Doch dem lutherisch getauften Enkel des jüdischen Aufklärungsphilosophen Moses Mendelssohn geht es noch um viel mehr. In der Auseinandersetzung mit der tradierten Form des Oratoriums und Stoffen, die von geistlicher Erweckung wie Selbstfindung handeln, reflektiert er auch ein Stück Familiengeschichte. Und er ist, brennend vor Neugier, auf der Suche nach dem neuen Oratorium.

 

Bisweilen irrt auch Heinrich Heine

Seine Vorbilder, während der Niederschrift seines ersten Oratoriums „Paulus“: die großen Oratorien Bachs natürlich und auch die Händels. Das Risiko des Vergleichs geht Mendelssohn ein und erhält prompt die Quittung: Heinrich Heine erkennt die Anleihen und wird spitzfedrig irrend von „sklavischen Kopien“ schreiben, wird nicht erfassen, welchen formalen wie expressiven Fortschritt Mendelssohns „Paulus“ für die Gattung, ja für die geistliche Musik insgesamt bedeutet.

79 Veranstaltungen in drei Wochen

Mit diesem so raffiniert zwischen Barock und Romantik, zwischen geistlicher und weltlicher dramatischer Form oszillierenden Oratorium wurde nun im Beethovensaal das Musikfest Stuttgart eröffnet, das sich in den kommenden drei Wochen in 79 Veranstaltungen mit dem großen Thema „Glauben“ auseinandersetzt. Am Pult des groß besetzten Bach-Collegiums Stuttgart und der Gächinger Kantorei stand Helmuth Rilling.

Die Ouvertüre, die Mendelssohn so eigenwillig wie künstlerisch integer als Quintessenz ohne Worte auf der melodischen Folie des Chorals „Wachet auf! ruft uns die Stimme“ komponiert hat, gestaltete Rilling mit ruhiger Hand, sehr bedacht auf einen schlichten, unaufgeregten, rhetorisch wie dynamisch fein regulierten Ton, sehr nah beim Bach’schen Choralton, schon den Duktus der fugierten Choräle vorwegnehmend, die Mendelssohn wie Bach als dramatische Ruhepunkte gesetzt hat. Und doch war das weit entfernt davon, Heines spitzfedrige Nörgelei auch nur im Ansatz zu beglaubigen.

In den turbaähnlichen Choralsätzen, die in ihrer Klangpracht durchaus die Assoziation zu Händel evozieren, setzte Rilling nicht einfach plakativ auf Klangüberwältigung mit den buchstäblichen Pauken und Trompeten. So sollte trotz großer Besetzung die splendide Instrumentationskunst Mendelssohns schön zur Geltung kommen, meist jedenfalls. Lediglich in den schnellen Parlando-Chören wie etwa „Hier ist des Herren Tempel“, sollte eben diese Besetzung zu einem wenn auch kleinen Handicap in Sachen Durchhörbarkeit werden.

Ersatz zehn Minuten vor Beginn

Unglaubliche Überraschungen, herbe Enttäuschungen

Bei den Soli dieser Aufführung gab es alles, von der unglaublichen Überraschung bis hin zur herben Enttäuschung. Die Überraschung lieferte der junge Tenor Benjamin Bruns. Er war flugs für den am Mittag des Konzerttages stimmlos gewordenen Michael Laurenz eingesprungen. Aus Wien eingeflogen, zehn Minuten vor Konzertbeginn in der Liederhalle angelandet, sang Bruns die komplexe Tenorpartie schlicht souverän, so text- wie tonsicher, so musikalisch sinnfällig wie berührend.

Die groß dimensionierte Sopranpartie führte Letizia Scherrer aus, anfangs in einer stimmlichen Verfassung, die man als stabil fragil beschreiben könnte. Die Arie „Jerusalem! Jerusalem“ mag dafür exemplarisch genannt sein. Ein wenig flackerte es hier in der Höhe, ein wenig schummrig klang es in der Tiefe. Gestalterisch ließ Letizia Scherrer dennoch nichts zu wünschen übrig. Markus Eiche, der an gleicher Stelle beim letzten Musikfest einen phänomenalen „Elias“ sang, zeigte sich abermals als stimmgewaltiger, grandioser Sänger-Erzähler. Gegenüber diesen drei Sängern völlig abgeschlagen die junge, noch im Studium befindliche Altistin Amir Seda-Karayan, die ihren Part nervös verhauchte.