Das Festival der Internationalen Bachakademie Stuttgart beginnt mit einer verpatzten Rede von Günther Oettinger, dafür aber einer umso strahlenderen Aufführung von Joseph Haydns „Schöpfung“.

Stuttgart - Herkunft“ lautet das diesjährige Thema des Musikfests Stuttgart, das am Samstag mit einem Konzert in der Liederhalle eröffnet wurde. Erst nach Abschluss des Festivals in zwei Wochen, rückblickend auf 45 Veranstaltungen wird zu ermessen sein, wie sinnvoll, wirklich Bezüge stiftend so ein Begriff sein mag. Vorderhand bot ein bukolischer Vorabend am Freitag in dieser Hinsicht Habhaftes. Trinkend war etwas über die Herkunft des weißen Lagenweins „Gemischter Satz“, Jahrgang 2012, des Collegiums Wirtemberg zu erfahren: ein frischer, aber gehaltvoller Wein aus gemeinsam gekelterten Riesling- und Traminer-Trauben von autochthoner Scholle, in der Nase fein, im Mund von drängelnder Würze und im Abgang sich wieder rund-verschlankend.

 

Kredenzt wurden dieser und drei weitere Tropfen bei einem Wandelkonzert in Uhlbach, mit Stationen im Weinbaumuseum, der Andreaskirche und der Kelter. Drei Programme von je dreißig bis vierzig Minuten, die allerdings bis auf das Cembalo-Recital von Vital Julian Frey, der zugleich locker moderierte, nicht den Unterhaltungswert der soliden Weine boten, die dazu verkostet werden durften (nicht in der Kirche, nebbich). Das Duo Seidenstraße mit fernöstlichen Wellness-Exotismen in der ausgezeichneten Akustik des Weinbaumuseums – dort ein Streichquartett oder ein barockes Consort zu präsentieren, lohnte sich – und Dominik Sustecks mäandernde Orgelavantgardismen boten schlicht zu wenig Oechsle.

Der Musikfreund spitzte eh aufs Eröffnungskonzert mit Joseph Haydns Oratorium „Die Schöpfung“. Auf dem abgesenkten Podium, das den Kontakt zum Publikum erhöhte, die Gächinger Kantorei und das Bach-Collegium Stuttgart, angeführt von Hans-Christoph Rademann, seit einem Jahr Nachfolger von Helmuth Rilling. Der war als Gast gekommen, zu hören, wie es weitergeht mit der von ihm gegründeten Akademie. Zwangsläufig kommt es bei solchen Festivitäten zu Reden. Wer auf die tollkühne Idee gekommen war, als Festredner Günther Oettinger einzuladen, mag man lieber nicht wissen, hoffend, dass der Bachakademiechef Rademann – noch etwas ahnungslos in Bezug auf hiesige Stimmungslagen und anderweitig beschäftigt – diese Wahl blindlings im Vorbeigehen abgenickt hat. Denn gedankenvolle Auslassungen zum Thema Herkunft wie auch erfreuliche Vortragsqualitäten waren nicht vom ehemaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten und derzeitigen EU-Kommissar für Energie zu erwarten. Dass es schlimmer wurde als befürchtet, hatte wiederum beinahe Unterhaltungswert. Nicht in Oettingers Sinne.

Nach dem Schrecken folgte das Chaos

Nach präludierenden Plattitüden wie „Musik verbindet“ und „Musik und Kunst kennen keine Grenzen“ bog Oettinger in realpolitische Überlegungen zur Weltlage ab und skizzierte Handlungsoptionen der Deutschen im Ukraine-Konflikt. Unruhe machte sich breit, erste „Aufhören“-Rufe folgten, ironischer Applaus und Buhs störten zunehmend den Redner. Irritiert kam der abrupt zum Ende und ward nach der Pause nicht mehr gesehen.

Nach dem Schrecken folgte das Chaos, die von Haydn wohlausgemalte Genesis der Welt zu Beginn seines Oratoriums. Und mit dem Unisono-C-Einsatz des schlank besetzten Orchesters ward alles gut. Wie sich später herausstellte, lag hier der einzige (leise) Einwand: jeweils ein Pult mehr bei den Streichern hätte der Gesamtbalance geholfen; besonders im Bassbereich war hier mit drei Celli und zwei Kontrabässen das Gegengewicht gegenüber Bläsern und Chor – und nicht nur im Forte – zu leicht.

Womöglich war bei diesem Konzert erst völlig zu ermessen, welchen Gewinn Hans-Christoph Rademann für Stuttgart bedeutet. Ein Musiker, der am Klang, der Chorintonation arbeitet, der Charaktere zuspitzt, Strukturen offenlegt und über blendendes Timing verfügt. Die Anschlüsse der Nummern sind auf den Punkt, niemals entstehen tote Räume oder macht sich geistiges Umblättern der Partiturseiten bemerkbar. Rademanns Dirigierweise ohne Taktstock mit offener, selten „schlagender“ Zeichengebung, die gelegentlich an Otto Klemperer erinnert, birgt hohes Risiko – aber sie öffnet Räume für Einschwingvorgänge, die dem Klang Körper geben.

Seriöse Ironie als Grundzug des Abends

In dieser Hinsicht magischer Höhepunkt war die D-Dur-Einleitung zu Uriels Rezitativ „In vollem Glanze steiget jetzt die Sonne strahlend auf“. Die Tonleiterschichtung vom Pianissimo bis zum Sonnenaufgang war nicht nur ein Crescendo, ein Anschwellen der Lautstärke, sondern eine Ausdehnung durch Verdichten des Volumens. Rademann versteht es dazu, harmonische Strebewirkungen nachzuzeichnen. Kadenzen sind nicht Schnappverschlüsse, bei ihm wird die Spannung zwischen den Akkordmagneten erfahrbar.

Die Gächinger Kantorei war in glänzender Form, gut verblendet, doch immer licht im vierstimmigen Satz. Wunderbar in der Nummer „Und eine neue Welt“ der geradezu unbotmäßige tänzerische, leicht schunkelnde Rhythmus. Das gehörte zum Grundzug des Abends: seriöse Ironie. Immer ist deutlich, dass es um Erzähltes geht. Ironie ist bitter nötig in den Adam-und-Eva-Duetten des dritten Teils. René Pape, der Bass unserer Tage, hier wieder überragend, sang, die Eva der Annette Dasch im Augenwinkel, leicht lüstern „Wie labend ist der runden Früchte Saft“. Die Sopranistin, deren Stimme etwas träge einschwingt, hatte wiederholt Intonationstrübungen, auch hätte sie sich an Papes überragender Textdeutlichkeit ein Vorbild nehmen können, doch der Gestus zwischen Unschuld und Keckheit, das Leuchten im Ton passte auf den Punkt. Dritter im Bunde der sehr unterschiedlichen Solisten war der ernst dreinschauende Daniel Behle, dessen leichter Tenor sich aber bestens in die erstaunlich homogenen Ensembles einfügte. Herzlicher Jubel.