Dass sie einmal im Scala einen großen Auftritt haben würde, hätte Helga Wittek sich niemals träumen lassen. Mit ihrer Interpretation von Rudi Schurickes „Capri-Fischern“ berührte die 86-Jährige die Zuhörer im Ludwigsburger Scala.

Ludwigsburg: Susanne Mathes (mat)

Ludwigsburg - Die Strahler sind auf ihre zierliche Gestalt gerichtet. Vor ihr steht ein Mikrofon. Hinter ihr sitzen Instrumentalisten aus aller Herren Länder. Kurz fährt sie sich noch einmal durch die Haare, streicht den Rock glatt. Leise hebt ein Akkordeon zum Intro an. Dann singt Helga Wittek. „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt und vom Himmel die bleiche Sichel des Mondes blinkt. . .“

 

Überrascht und mitgerissen hört das Publikum im Kulturzentrum Scala zu, wie die alte Frau, für die es zuhause im Seniorenheim schon in Richtung Schlafenszeit ginge, den 50er-Jahre-Schlager von Rudi Schuricke darbietet. Mit klarer Stimme, mit Passion, ohne Kiekser oder Wackler.

Fünf magische Minuten

Es sind magische fünf Minuten. Jeder spürt: Was hier geschieht, ist Lichtjahre entfernt von den Inszenierungen medial omnipräsenter Möchtegern-Stars in Castingshows und Song-Contents. Hier singt jemand, für den Musik nicht Mittel zur Selbstdarstellung ist, sondern Elixier und Begleiter fürs Leben. Das passt zu dem Abend: Es geht um das Projekt „Ludwigsburg – Lieder einer Stadt“, worin anlässlich von 300 Jahre Stadterhebung Gesänge von Ludwigsburgern aus fast 150 Nationen gesammelt werden.

Zum Auftritt in Schurickes Fußstapfen ist die alte Dame gekommen wie die Jungfrau zum Kinde. Studenten der Pädagogischen Hochschule, der Musiker Alon Wallach und der Komponist Bernhard König besuchten im Rahmen des Projekts Senioren im Albert-Knapp-Heim. Dort lebt Helga Wittek im Betreuten Wohnen.

Dem Dresdener Flammeninferno gerade noch entkommen

Helga Wittek gibt bei diesem Anlass die „Capri-Fischer“ zum Besten. Sie kennt den Song in- und auswendig, hat ihn bei verschiedenen Anlässen gesungen, zum Beispiel, als eine Verwandte einen Italiener heiratete. „Ich hab’ mich, als ich es damals zum ersten Mal hörte, gleich in das Lied verliebt“, erinnert sich die alte Dame an die Zeit, als der Schlager zum Welterfolg wurde. Nicht etwa wegen des Textes, denn zur sentimentalen Sorte gehört die Seniorin nicht. Auch nicht unbedingt wegen des Sängers Rudi Schuricke, obwohl der nicht zu verachten gewesen sei, wie sie spitzbübisch anmerkt.

„Mir hatte es die schöne Melodie angetan“, erzählt sie. Melodien fürs Gemüt waren Balsam, denn Erlebnisse wie dasjenige, kurz vor dem Dresdener Flammeninferno am 13. Februar 1945 in einem der letzten „Schlesierzüge“ aus der Stadt herauszukommen, „während so viele Menschen auf so entsetzliche Weise ums Leben kamen“, steckten noch tief in ihrer Seele.

Die Erinnerung lebt weiter

Die Fachleute Bernhard König und Alon Wallach horchen bei der Session im Seniorenheim auf. Kurzerhand laden sie Helga Wittek für den nächsten Tag ins Kulturzentrum Scala ein. Dort soll ein Zwischenstand von „Lieder einer Stadt“ präsentiert werden. Eigentlich geht die betagte Dame abends nicht mehr groß auf den Wackel, auch wenn sie durchaus noch unternehmungslustig ist. „Aber da dachte ich mir dann doch: Da gehst du mal hin“, erzählt sie. „Neugierig war ich ja schon. Und im Scala war ich früher oft.“ Da stand man sich schon mal die Füße in den Bauch, um den neuesten Film mit Marika Rökk anschauen zu können.

Der Überraschungscoup des Abends

Als die Projekt-Initiatoren Helga Wittek dann relativ spontan ermutigen, ihre „Capri-Fischer“ mit Begleitung auf der großen Bühne vorzutragen, muss sie erst einmal tief Luft holen. Aber dann ergreift sie die Gelegenheit beim Schopf. Und landet einen der Überraschungscoups des Abends.

Dass sie eine geschulte Singstimme hat, das ist dabei nicht zu überhören. Das kommt nicht etwa von der freitäglichen Singstunde im Seniorenheim. Die im ehemaligen Kreuzburg in Oberschlesien aufgewachsene Helga Wittek hatte schon immer ein Lied auf den Lippen, nahm auch mal ein Jahr lang Gesangsunterricht. Dass sie 1945 mit dem Klavierspielen anfangen sollte wie ihre Schwester, war ausgemacht.

Aufhören, wenn es am schönsten ist

Doch dann kamen die Flucht und das Kriegsende. Die schönen Künste hatten keine Priorität mehr, „stattdessen habe ich in Sachsen dann drei Jahre Berufsschule genossen, auch wenn ich ja liebend gerne Sängerin oder Schauspielerin geworden wäre“. Gesungen hat sie trotzdem weiterhin. Vor allem dann in Ludwigsburg, ihrer nächsten und seitherigen Lebensstation. Beim Werkschor der Firma Hüller, beim Chor der katholischen Stadtkirche, auch eine Weile lang in Pflugfelden war sie als Sopranistin und Mezzosopranistin aktiv. Ein perfekter Freizeitausgleich zu ihrer Berufstätigkeit im Büro – sie arbeitete in der Bibliothek der Pädagogischen Hochschule, beim Stadtarchiv und am Amtsgericht.

Seltsam: Seit dem Abend im Scala mag Helga Wittek die „Capri-Fischer“ nicht mehr so gern singen. Das Erlebnis sei eben nicht zu toppen, sagt sie. „Es ist wie im Sport. Da hört ja auch mancher auf, wenn er seinen größten Erfolg eingeheimst hat.“ Das Lied lässt sie aber trotzdem nicht los. Dieser Tage war sie am Entrümpeln. „Und was finde ich da zwischen Büchern und alten Filmprogrammen?“, sagt die 86-Jährige. „Die alte Single mit Rudi Schuricke.“