Der Komponist Hans Werner Henze hat die Biennale für Neues Musiktheater 1988 gegründet, 1996 übernahm sein Kollege Peter Ruzicka. In ihrem ersten Jahr als künstlerische Leiter des Festivals haben Manos Tsangaris und Daniel Ott 2016 „die Fenster ganz weit geöffnet“.

München - Am Anfang ist das Wort. „Ich“ liest man über der Bühne, aber schnell löscht der Cursor das Geschriebene wieder aus, und weiter verfolgt das Publikum die allmähliche Verfertigung der Gedanken des Autors am Computer. Textfetzen, verfasst und schnell getilgt: „So wollte ich“, „So lange ich mich zurückerinnern kann, wollte ich genau“, „Seit Ewigkeiten hatte ich den Plan, ein Buch zu schreiben, das mit diesem Satz anfangen sollte. Das einzige Problem war nur: Wie sollte es danach weitergehen?“

 

Als „Ouvertüre“ bezeichnet Simon Steen-Andersenden Anfang seines Musiktheaters „If this then that and now what“, mit dem am Wochenende die Münchener Biennale für Neues Musiktheater eröffnet wurde. Musiktheater? Kommt auf die Definition an. Die reine Musik des Stücks beschränkt sich, auch wenn zwölf Streicher an der Rampe die markantesten Ausstattungsteile der Bühne bilden, nur auf kurze Akzente. Aber es gibt auch das Klappern von Schuhen, die Geräusche von Türen, die geöffnet und wieder geschlossen werden. Und die Bühnenereignisse sind streng rhythmisiert. Schauspieler laufen von links nach rechts über die Bühne, zwei von ihnen positionieren sich als Redner im Vordergrund, sprechen über Funktionsharmonik, über die Reibung zwischen Kunst und Wirklichkeit, Zeichen und Bezeichnetem; sie stellen fest, dass das Nachdenken über einen banalen Gegenstand dessen Banalität deutlich mindern kann und entdecken dabei: die „Magie der Selbstreferenz“. Musik, die nur ihren eigenen Regeln genüge, die abstrakt sei und absolut, eigne der Zauber des Selbstbezüglichen wie keiner anderen Kunst.

Musiktheater als Thesenpapier

Steen-Andersens Stück ist ein auf Rollen verteiltes Thesenpapier, das dem Kunstwerk auf ironische, manchmal auch verzweifelte Weise seine eigenen Produktionsbedingungen einverleibt. Allerdings hat die intelligente, aufwändige Nabelschau des Komponisten Längen. Und sie schrappt haarscharf an ihrem Thema vorbei. „If this then that and now what“ ist Musiktheater zwischen Slapstick und tiefster Verunsicherung, es bietet viel Theater, aber viel zu wenig Musik. Erst in einem lustigen „Tanz, der sich selbst begleitet“ taucht die Klangkunst lächelnd aus den Wortfluten empor, und hätte es mehr von diesen Momenten gegeben, dann hätte sie die langen Verbalstrecken voller theoretischer Selbstbezüglichkeiten spielend ausgehebelt: weil sie vergnügt einfach nur bei sich selbst gewesen wäre.

Szenenwechsel. Ein großer Raum im Muffatwerk neben dem Kulturzentrum Gasteig. Schreibtische, Paravents, Bar, Garderobe, Biertische, Perücken auf gesichtslosen Plastikköpfen. Draußen regnet es in Strömen, drinnen versinken die beiden Komponisten, die seit diesem Jahr die Münchener Biennale für neues Musiktheater leiten, in weichen Sofapolstern. 1988 hat Hans Werner Henze das Festival gegründet, 1996 übernahm sein Komponisten-Kollege Peter Ruzicka, öffnete die zuvor stark an traditionellen Erzählformen orientierte Biennale für neue Medien und Darstellungsformen. Nun haben Daniel Ott und Manos Tsangarisdie Reset-Taste gedrückt. Wobei Ott die hohen Erwartungen an den Neustart zunächst dämpft: 2016 habe man „erst einmal die Fenster ganz weit aufgemacht“, sagt er, und dass man, wenn man jetzt die Idee der Nachwuchsförderung wieder stärker in den Vordergrund stelle, eigentlich auch einen Schritt zurück zu den Wurzeln des Festivals unternehme.

Junge Teams werden auf internationalen Plattformen gecastet

Dabei bezieht sich diese Förderung jetzt nicht mehr nur auf Komponisten (vor allem der Generation zwischen 30 und 40), sondern auch auf Regisseure, Dramaturgen, Autoren und Bühnenbildner. In Plattformen, die für das laufende Festival in München und Bern stattfanden, für die nächste Ausgabe 2018 in Buenos Aires, Lima, Beijing, Hongkong und Athen, sollen junge, internationale Teams gemeinsam erforschen, was Musiktheater heute ist – oder was es (auch nach der digitalen Revolution) sein könnte. Neun Mentoren schlagen Künstler vor und begleiten auf Wunsch auch die Produktionen der Teams.

Die Münchener Biennale als Labor: Das ist die Grundidee, und unbedingt sollen künftig, so Tsangaris, die Musik und auch das Singen „Treibstoff und Glutkern“ des Festivals sein – das sei, gibt er zu, in diesem Jahr allerdings „noch nicht immer der Fall“. Bereits nach wenigen Tagen verspüren die neuen Festivalchefs die Notwendigkeit einer neuen Strenge – oder zumindest verbindlicher Produktionskriterien. Nach ihnen zu suchen, sei „im derzeitigen Zustand der Unsicherheit“ unabdingbar. Dass sich heute viele Komponisten „der Koordinatensysteme, innerhalb derer sie arbeiten, in ihren Arbeiten versichern, indem sie diese zu Teilen der Werke machen“, gehört für Tsangaris dazu. Man müsse die Ergebnisse dieser Selbstvergewisserung (siehe Steen-Andersen) nicht immer vollständig bejahen, aber die Auseinandersetzung muss sein, der Diskurs. In diesem Sinne steht die duale Leitungsstruktur der Biennale auch für eine neue Programmatik.

Lebendige Spiele mit der Form

Bewusst offen bleibt die Frage der Form, und sie erweist sich zu Beginn der Biennale 2016 als lebendigster Spielplatz der Künstler. So empfangen etwa Till (Wyler) und Tassilo (Tesche) die Besucher ihrer Musiktheater-Installation „The Navidson Records“ mit dem Satz „Wir wissen nicht, was Sie erwartet“ und mit der schlichten Erläuterung, dass sie „nach bestimmten Zuständen“ gesucht hätten; anschließend irrt man durch ein Labyrinth von Räumen, in dem sich Ausführende (Musiker, Performer, Darsteller) mit Besuchern vermischen und in dem Vorgefertigtes neben gerade Entstehendem sicht- und hörbar wird. Ein hübsches Verwirr-Spiel. Eher selbstgestrickt wirkt ein von Judith Egger und Neele Hülcker naiv staunend traktiertes, mit Mikrofonen, Kameras und Ultraschall abgetastetes tierisches Hänge-Objekt („Hundun“). Und es gibt kleine, lustige Flashmobs im öffentlichen Raum, deren Abfilmung man amüsiert im Festivalzentrum anschauen kann: Vier Darsteller sitzen im Haltestellenhäuschen, schlagen synchron Beine übereinander und schauen auf die Uhr; andere starren gebannt in einen Abfalleimer. Meistens reagiert niemand auf sie. Ein sprechendes Bild: Auch 2016 ist die Münchener Biennale, so sehr sie sich auch um Vernetzung mühen mag, noch Teil einer bunten Nische – wobei ernsthaft zu fragen ist, ob das nicht auch eine Qualität sein kann.

In „Sweat of The Sun“ haben sich Künstler rund um David Fennessy (Text und Musik) und Marko Storman (Text und Regie) mit dem Tagebuch („Eroberung des Nutzlosen“) auseinandergesetzt, das Werner Herzog während der Dreharbeiten zu „Fitzcarraldo“ schrieb; herausgekommen ist dabei eine atmosphärisch dicht wirkende, manchmal nur szenisch ein wenig zu dekorativ geratene Studie, deren Bilder und deren von vielen Wiederholungen geprägte Klangschleifen interessante Brücken zwischen Assoziativem und Realem schlagen. Schön ist hier auch die Integration des Instrumentalen ins Bühnenbild: Über die Masten dessen, was wohl das durch den Urwald gezogene Schiff Fitzcarraldos sein soll, spannen sich Stahlsaiten, deren Klang das Streicherflirren des Stuttgarter Kammerorchesters exotisch anreichert.

Wie tröstlich: Am Ende ist die Musik

Am schönsten ist aber, dass Musiktheater bei Fennessy wirklich Theater aus dem Geist der Musik sein darf. Und schön ist auch, dass selbst Simon Steen-Andersen nach langem Schweben auf der Metaebene der Klangkunst die Selbstabschaffung eines Textes verkündet, der nun zum bloßen Hintergrund der Musik geworden sei. Das Vorgetragene, heißt es da, werde „allmählich von seinem eigenen Thema übernommen“ – und der Biennale-Besucher denkt hier unweigerlich zurück an das nächtens uraufgeführte, in all seinen Bestandteilen musikalisierte Solostück „Pub-Reklamen“ des Altmeisters Georges Aperghis. Am Anfang war das Wort, und am Ende (wie tröstlich!) ist: die Musik.