In Ägypten hat die Organisation Muslimbrüderschaft der Gewalt abgeschworen. Nun gehört sie zum Bündnis der Gegner Mubaraks.

Politik/ Baden-Württemberg: Christian Gottschalk (cgo)
Stuttgart - Kurz bevor der amerikanische Sexualforscher Alfred Kinsey 1956 starb, schätzte er die gesellschaftlichen Auswirkungen seines Lebenswerkes als eher gering ein. Das Ziel der sexuellen Freiheit sei nicht erreicht. Bei Sayyid Qutb hat der 1948 erschienene Kinsey-Report, wonach 69 Prozent der Befragten Kontakt zu Prostituierten hatten und fast die Hälfte außereheliche Affären, hingegen einen gewaltigen Eindruck hinterlassen. Der Ägypter Sayyid Qutb war zu dieser Zeit in den USA, um dort das Bildungssystem zu studieren. Als Qutb in seine Heimat zurückkehrte war er nicht liberaler, sondern radikaler als zuvor. "Amerikaner unterscheiden sich nicht von Tieren" und "Der weiße Mann in Europa und in den USA ist unser Hauptfeind", befand der Mann, der zum theoretischen Vordenker der Muslimbrüder avancieren sollte.

Der Lehrer Hasan al-Banna hatte die Muslimbrüderschaft 1928 gegründet, zunächst als karitative Organisation, doch schnell entwickelte sich die Vereinigung zu einer straff geführten Massenpartei. Heute gilt die Muslimbrüderschaft als Keimzelle des Islamismus, aus der sich die Hamas im Gazastreifen entwickelt hat und aus der Al-Qaida ideologische Nahrung bezieht. Aiman al-Sawahiri, Nummer zwei in der Terrororganisation bin Ladens, hatte seine ersten Kontakte zum radikalen Islam bei den Muslimbrüdern. "Alle Islamisten stammen von den Muslimbrüdern ab", sagt der deutsch-ägyptische Autor Hamed Abdel-Samad.

Das ideologische Gedankengut der Muslimbrüder fußt auf den Überlegungen von Sayyid Qutb, der in seinen Schriften zum Heiligen Krieg gegen die Briten aufrief, die Ägypten lange Zeit als Kolonie ausgebeutet hatten. Stark verkürzt lässt sich Qutbs Theorie so darstellen: alleine Gott ist legitimer Gesetzgeber. Tatsächlich unterliegen Herrschaft und Gesetzgebung der Willkür des Menschen. Muslime sind verpflichtet, gegen die gottlosen, menschengemachten Ordnungen zu revoltieren und diese, auch unter dem Einsatz von Gewalt, alsbald zu beseitigen. Dies ist auch heute noch in Grundzügen das Erklärungsmodell religiöser Fanatiker für den Heiligen Krieg und dient radikalsten und militantesten Gruppierungen als Inspiration.

Die Organisation hat offiziell rund eine Million Anhänger


Obwohl die Muslimbrüder großen Einfluss auf die islamistischen Bewegungen ausgeübt haben, waren und sind sie selbst keine homogene Bewegung. In den 40er Jahren kam es zunächst zu einer Expansion in die Nachbarländer, nach Palästina und Syrien, nach Jordanien und auch in den Sudan. Mit Beginn der staatlichen Verfolgung in Ägypten gingen zahlreiche ihrer Führer ins Exil, und sorgten so für eine weitere Verbreitung des Gedankengutes, allerdings in sehr unterschiedlichem Maße. Während sich die Muslimbrüder in Syrien am gewaltsamen Widerstand beteiligten, so dass die Mitgliedschaft mit der Todesstrafe geahndet wurde, waren Mitglieder der Organisation in Jordanien an der Regierung beteiligt. Der sudanesische Präsident Omar al-Baschir putschte sich 1989 mit Unterstützung der Bruderschaft an die Macht.

Im Gazastreifen, der von 1948 bis 1967 unter ägyptischer Verwaltung stand, fielen die radikalen Thesen der Muslimbrüder auf fruchtbaren Boden. Angereichert und vermischt mit militanten Widerstandstheorien gegen Israel gründete sich hier die Hamas. In Ägypten selbst haben die Muslimbrüder schon zu Beginn der 80er Jahre bekanntgegeben, auf Gewalt verzichten zu wollen. Obwohl die Organisation seit 1954 verboten ist, hat sie heute offiziell rund eine Million Anhänger und stellte nach den Wahlen 2005 mit 88 - offiziell unabhängigen - Kandidaten die größte Oppositionsgruppe im Parlament. Das Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien in Hamburg bescheinigt den Muslimbrüdern "mehr Professionalität als anderen Parteien".

Als Kontrastprogramm zu dem seit 30 Jahren herrschenden Staatspräsidenten Hosni Mubarak legte Mahdi Akif im Januar 2010 sein Amt als oberster Führer der Bruderschaft nach sechs Jahren nieder. Eine Premiere in der mehr als 80 jährigen Geschichte der Organisation. Seit einem Jahr werden die Muslimbrüder von Mohammad Badie geleitet.