Musterverfahren sollen anhand einiger Fällen Fragen klären, die viele Anleger betreffen – so auch in der Dieselaffäre. Doch die Prozesse haben eine Tücke: Im Herbst 2020 fällt die Gesetzesbasis dafür weg, dann könnten sie platzen.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Die Musterprozesse von Kapitalanlegern gegen Unternehmen werden zu einem Wettlauf gegen die Zeit. Im Herbst 2020 läuft die gesetzliche Grundlage dafür aus, ohne dass es bis jetzt eine Folgeregelung gibt. Noch offene Verfahren würden dann platzen, die klagenden Anleger müssten alle wieder einzeln ihr Recht suchen. Dieses Problem könnte bundesweit etwa vierzig Fälle betreffen, so das Musterverfahren um die VW-Dieselaffäre in Braunschweig und vergleichbare Anträge gegen Porsche SE und Daimler in Stuttgart. Ein Klägervertreter warnt bereits vor einem „Chaos an den Landgerichten“.

 

Es geht um das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz, das 2005 geschaffen und 2012 reformiert wurde. Bei vielen gleich gelagerten Fällen können zentrale Rechtsfragen am Beispiel einzelner Kläger von der nächsthöheren Instanz geklärt werden; die übrigen Verfahren bleiben derweil ausgesetzt. Dies entlastet die Gerichte und stärkt den Rechtsschutz. Das überarbeitete Gesetz war bis 2020 befristet worden, um erneut zu prüfen, ob es sich bewährt hat. Zu unterscheiden ist es von der neuen Musterfeststellungsklage für Verbraucher.

Richter beklagt Rechtsunsicherheit

In Stuttgart sind Musterverfahren von Anlegern beantragt, die von Porsche, VW und Daimler Schadenersatz in Milliardenhöhe wegen verspäteter Information über Motormanipulationen fordern. Ob es dazu kommt, hat das Oberlandesgericht (OLG) noch nicht entschieden. Ein mit vielen Fällen befasster Richter am Landgericht schrieb in einer Verfügung von einem „gesetzgeberischen Versehen“. Es bestehe „erhebliche Rechtsunsicherheit“, die nur durch ein Reparaturgesetz ausgeräumt werden könne. Bis dahin könnten die Musterverfahren „keinen effektiven Rechtsschutz mehr gewährleisten“.

Alarm schlägt auch die Rechtsexpertin der Grünen im Bundestag, Manuela Rottmann. Vom Bundesjustizministerium hatte sie die Auskunft erhalten, die Untersuchung des Gesetzes dauere noch an; zum weiteren Umgang damit lasse sich daher noch nichts sagen. Dies wertete Rottmann als „Untätigkeit der Bundesregierung“, die sich schon jetzt negativ auf laufende Verfahren auswirke. Die beklagten Autofirmen hätten einen hohen Anreiz, Verfahren in die Länge zu ziehen und so zu sprengen.

Justizministerium: Kein Anlass zu Sorge

Eine Sprecherin des OLG Stuttgart sagte, man kenne die Problematik. Es sei „kaum denkbar“, dass die derzeitige Rechtslage dazu führe, dass die bisherige Arbeit der Oberlandesgerichte vergeblich wäre. Man erwarte ein „baldiges Tätigwerden des Gesetzgebers“, der die Geltungsdauer entweder verlängern oder eine Übergangsregelung schaffen könnte. Die Verfahren würden weiter „zügig“ bearbeitet.

Eine Sprecherin von Bundesjustizministerin Katarina Barley sagte, es gebe „keinen Anlass zur Sorge“. Über Konsequenzen aus der Überprüfung werde „rechtzeitig vor Auslaufen der Befristung“ entschieden.