Mythos Fußballstadien Stadien als Spiegelbild der Gesellschaft?

Am Wochenende startet die Bundesliga-Saison. Doch wie gleich geht es auf dem Platz und den Tribünen zu? Foto: imago//Nigel Keene

Angeblich ist das Fußballstadion einer der letzten Orte dieser Republik, in dem Alt und Jung, Arm und Reich klassenlos zusammenkommen. Doch der Schein trügt. Zum Start der Bundesligasaison wird es Zeit, diesen Mythos zu entkräften.

Vor einigen Jahren ging ein Autokonzern mit einer Werbekampagne in die Offensive. Auf einem Plakat war der Innenraum eines Stadions abgebildet. Im Vordergrund lächelten deutsche Nationalspieler mit und ohne Einwanderungsgeschichte. Im Hintergrund sah man Dutzende Fans, jung und alt, weiblich und männlich. Einige schwenkten die deutsche Fahne, andere die Regenbogenflagge. Und dazu die Botschaft: „Fußball, das sind wir alle.“

 

Seit Jahrzehnten beschreiben Fußballverbände, ihre Sponsoren und viele Medien das Stadion als Spiegelbild der Gesellschaft. Sie schwärmen von einem Treffpunkt aller Milieus, unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Einkommen. Von einem Ort, an dem der Frust des Alltags keine Rolle spiele. Einige Funktionäre betonen sogar, dass die teils rechtsextreme AfD dem Fußball bewusst fernbleibe. Schließlich würde sie dort auf Gegenwehr von antirassistischen Fans treffen.

In einigen Punkten mag das Stadion tatsächlich die Gesellschaft abbilden, wenn es um Alter, Einkommen oder Bildung geht. Aber das Stadion als der letzte Verständigungsraum in einer politisch aufgeladen Atmosphäre? Diese Wahrnehmung hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Es wird höchste Zeit, diesen Mythos zu entkräften. Und der Start der neuen Bundesligasaison an diesem Wochenende ist dafür ein guter Zeitpunkt.

Beginnen wir mit einem Blick auf die Einwanderungsgesellschaft. Von den 26 deutschen Nationalspielern bei der heimischen Europameisterschaft hatten neun einen Migrationshintergrund, rund 35 Prozent. Bei den Bundesligaklubs lässt sich eine solche Erhebung schwer vornehmen. Aber: Seit gut zwanzig Jahren haben etwa die Hälfte aller Profis hierzulande eine ausländische Staatsbürgerschaft. Das Spielfeld – das wichtige Zentrum des Stadions – ist also divers.

Doch das das gilt nicht überall. Laut einer Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung, kurz DeZIM, waren im Jahr 2021 von rund 400 Führungskräften der Bundesligaklubs nur vier Prozent schwarz. Auch in den Trainerstäben der Profivereine lassen sich nicht-weiße Vertreter an einer Hand abzählen. Vincent Kompany, dessen Vater aus der Demokratischen Republik Kongo stammt, ist nun beim FC Bayern der erste schwarze Cheftrainer in der 61-jährigen Geschichte der Bundesliga. Dort, wo die Entscheidungen getroffen werden, ist der Fußball noch lange nicht das Abbild der Gesellschaft.

In Deutschland haben knapp dreißig Prozent der Bevölkerung eine Einwanderungsgeschichte. In etlichen westdeutschen Städten ist dieser Anteil höher. In Dortmund liegt er bei 40 Prozent, in Frankfurt und Stuttgart bei 48. Es gibt keine seriöse Erhebung dazu, wie hoch der Migrationsanteil im deutschen Stadionpublikum ist. Aber sicher ist: Die Tribünen der Bundesliga repräsentieren ihre Stadtgesellschaften nicht mal im Ansatz. Die Ultras, die Hartgesottenen unter den Fans, sind in großer Mehrheit weiß. Nur vereinzelt gehören Mitglieder türkischer oder nordafrikanischer Herkunft zu ihren Gruppen.

Woran liegt das? Bis zum Anwerbestopp 1973 kamen rund 14 Millionen „Gastarbeiter“ in die Bundesrepublik, aus Italien, Spanien, Griechenland und insbesondere aus der Türkei. Die Politik glaubte, dass die Menschen nach getaner Arbeit in ihre Heimatländer zurückkehren würden. Integrationskonzepte gab es kaum, auch im Fußball nicht. Der DFB sträubte sich gegen die Aufnahme der „Gastarbeiter“ in seine Vereine. Irgendwann ließ er es zumindest zu, dass sie eigene Mannschaften bilden konnten. Doch bei der Vermittlung von Plätzen, Hallen und Material blieb der DFB weitgehend tatenlos.

„Helft uns! Wir wollen kein Freiwild sein!“

Auch die Bundesligaklubs interessierten sich in den siebziger und achtziger Jahren wenig für die Einwanderer in den Vororten ihrer Städte. Bald darauf gingen rechtsextreme Hooligans auf „Ausländerjagd“. Auf den Tribünen gaben tausende Fans „Affenlaute“ von sich und beschimpften gegnerische Spieler als „Asylanten“. Dass im selben Zeitraum Einwanderer in Solingen, Hoyerswerda und Rostock ermordet und verletzt wurden, schien sie nicht zu stören. „Helft uns! Wir wollen kein Freiwild sein“, schrieben damals die schwarzen Spieler Souleyman Sané, Anthony Yeboah und Anthony Baffoe in einem offenen Brief.

Dieser offene Rassismus aus den neunziger Jahren wurde durch moderne Überwachungskameras, härtere Strafen und eine pädagogische Fanarbeit aus den Stadien verdrängt. Doch für viele Menschen mit Einwanderungsgeschichte wirken diese Traumata nach. Sie kennen die Geschichten ihrer Eltern und Großeltern, die im Stadionumfeld nach potenziellen Gefahren suchten.

Rassistische Denkmuster prägen noch heute die Strukturen des Fußballs. Aber sie sind nicht mehr so offensichtlich, wie die „Mitte-Studie“ der Friedrich-Ebert-Stiftung zu menschenfeindlichen Einstellungen von 2023 nahelegt: „Schwarze Menschen sind im Sport besonders talentiert“ – dieser Aussage stimmten 39,2 Prozent der Befragten ohne jeglichen Sportbezug zu. Bei Befragten, die einem Fußballverein angehören, war die Zustimmung zehn Prozent höher.

Den überwiegend weißen Sportjournalisten fallen diese Stereotype offenbar nicht auf. Im Gegenteil: Forscher aus Dänemark und Großbritannien analysierten 2019 und 2020 die TV-Kommentare bei 80 Spielen in vier großen Ligen. Einige Ergebnisse: Wenn Kommentatoren über Intelligenz und Arbeitsmoral sprachen, richteten sich mehr als 60 Prozent ihres Lobes an „Spieler mit hellerer Hautfarbe“. Beim Thema Kraft war es dagegen 6,59 Mal wahrscheinlicher, dass sie über einen „Spieler mit dunklerer Hautfarbe“ sprachen. Mit dieser Voreingenommenheit befördern die Kommentatoren das Vorurteil, dass schwarze und weiße Menschen unterschiedliche Veranlagungen haben – eine rassistische Wahrnehmung, die sich seit der Kolonialzeit hält.

Wenige Frauen unter den Ultras

Menschen mit Einwanderungsgeschichte müssen im Stadion nicht mehr befürchten, von tausenden Fans diskriminiert zu werden. Aber es wird ihnen das Gefühl vermittelt, dass sie von der Norm abweichen. Auch deshalb bleiben wohl viele von ihnen dem Stadion fern. Die Vereine unternehmen wenig dagegen, weil es ihnen gar nicht auffällt oder sie keinen Handlungsdruck empfinden. Die meisten Stadien bis hinunter in die dritte Liga sind ausverkauft. Der Jahresumsatz der ersten und zweiten Liga erreicht fünf Milliarden Euro. Nach der Logik der Klubs ist die Fußballindustrie nicht auf neue Kunden angewiesen.

Vom Querschnitt der Gesellschaft aber kann keine Rede sein. Laut Umfragen liegt der Frauenanteil des Fernsehpublikums bei einem Männerländerspiel bei 40 Prozent. Doch in der Männer-Bundesliga kommen die Klubs in ihrem Stadionpublikum höchstens auf 25 Prozent. In den Fankurven bei den Ultras liegt der Frauenanteil bei maximal fünf Prozent.

Jede dritte Frau in der Europäischen Union hat mindestens einmal körperliche oder sexualisierte Gewalt erlebt. Und das häufig in einem vertrauten Umfeld: in den eigenen vier Wänden, am Arbeitsplatz, im Freundeskreis. Die „MeToo“-Bewegung hat das Bewusstsein für dieses Thema verstärkt. Doch es gibt Bastionen der Männlichkeit, die davon fast unberührt geblieben sind: zum Beispiel der Fußball. Sexismus und sexualisierte Gewalt gehören für viele Anhänger zur Fankultur.

Immer wieder kommt es in Sonderzügen von Fans zu Übergriffen, Belästigungen und vereinzelt zu Vergewaltigungen. Klubmitarbeiter sichern den Opfern Unterstützung zu, doch manche Fans spekulieren. Hatten die Frauen wegen ihres Verhaltens oder ihrer freizügigen Kleidung die Taten „provoziert“? Eine solche Täter-Opfer-Umkehr kann dazu führen, dass Frauen sich nach ähnlichen Übergriffen aus Sorge vor Stigmatisierung nicht mehr an die Polizei wenden.

Opfer brauchen Schutzräume

Im Stadion gehören frauenfeindliche Sprüche, Gesänge und mitunter auch Transparente zum Alltag. Jenseits der Stadien existiert unterschwellige Ausgrenzung, dafür hat die „Kompetenzgruppe Fankulturen und Sport bezogene Soziale Arbeit“ (Kofas) Dutzende Belege zusammengetragen. So mussten Frauen bei Fanmärschen in den hinteren Reihen bleiben. In Videoclips sollten ihre helleren Stimmen und längeren Haare nicht erkennbar sein. Fans verweigerten die Reisepause an Raststätten, wo Frauen auf die Toilette gehen wollten.

Noch immer lehnen viele Ultras Frauen als Mitglieder ab. Selbst in fortschrittlicheren Fanszenen bestehe manchmal eine Rollenverteilung. Frauen übernehmen Aufgaben, die sich im Hintergrund abspielen und als klassisch weiblich gelten. Sie besorgen Lebensmittel, verkaufen Fanartikel, kümmern sich um soziale Medien. So gut wie nie dürfen sie im Stadion mit dem Megafon die Gesänge anstimmen.

Wenn die Stadien tatsächlich irgendwann ein Spiegelbild der Gesellschaft sein sollen, dann müssen Vereine und Verbände mehr gegen Diskriminierung leisten. Dazu zählen Schutzräume für Opfer, die Schulung von Ordnern, die Vernetzung mit kommunalen Beratungen. In der Aus- und Fortbildung von Trainern, Schiedsrichtern und Managern sollte das Thema einen größeren Raum einnehmen.

Es steckt viel Steuergeld im Fußball

Die Fußballindustrie hat über Jahrzehnte bewiesen, dass sie sich selbst nicht reformieren kann. Die Klubs gehen zwar inzwischen über die aktionistischen Kampagnen für „Vielfalt“ und „Diversity“ hinaus. Doch ihre Versuche, mehr Frauen und Menschen mit Migrationsgeschichte durch „Leadership-Programme“ in die Führungsgremien zu bringen, reichen nicht. Von den rund 400 Entscheidungspositionen in der ersten und zweiten Liga sind nur neun Prozent weiblich besetzt.

Niemand kann genau beziffern, wie viel Steuergeld im Fußball steckt: in Stadionbauten und Sicherheitsmaßnahmen, in Fanprojekten und Bürgschaften für strauchelnde Klubs. In jedem Fall sollte die Politik einen stärkeren Druck auf die Vereine ausüben. Es wird Zeit, dass auch im Fußball über feste Quotierungen diskutiert wird. Denn nur vielfältige Vorstände können Lösungen entwickeln, von denen sich die Gesellschaft im Ganzen angesprochen fühlt. Erst dann sind im Stadion wirklich alle willkommen.

Vom Autor gerade erschienen: „Spielfeld der Herrenmenschen – Kolonialismus und Rassismus im Fußball“ (Verlag Die Werkstatt).

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