Bei Frauen heißt es gerne mal, sie seien hormongesteuert – das klingt immer ein bisschen so, als hätten Hormone auf den Körper des Mannes keinerlei Einfluss. Die Neurowissenschaftlerin Franca Parianen betont, dies sei eine „falsche Vorstellung“. Sie forschte am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und hat die Ergebnisse ihrer Forschung in dem Buch „Hormongesteuert ist immerhin selbstgesteuert“ zusammengefasst. „Wenn Männer nicht von Hormonen beeinflusst wären, hätten sie keinen Tag-Nacht-Rhythmus, keinen Orgasmus, keine Gefühle“, sagt Parianen am Telefon. Auch die Fight-Flight-Response, die rasche körperliche und seelische Anpassung von allen Lebewesen in Gefahrensituationen, basiere auf Hormonen.
Hormone beeinflussen unser Bewusstsein
Denn unser aller Nervensystem – das von Männern und von Frauen – wird durch ein zweites, durchaus hochkomplexes Regulationssystem unterstützt – das endokrine System. Dieses besteht aus einem Netzwerk von Drüsen, das chemische Botenstoffe, also die Hormone, bildet und ans Blut absondert. Hormone sind also für unser tägliches Funktionieren immens wichtig. Sie beeinflussen unser Körperwachstum, sie initiieren, erhalten und beenden die Entwicklung von primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen und regulieren auch unseren Stoffwechsel; und sie beeinflussen auch unser Erregungsniveau und unser Bewusstsein.
Unser Hormonsystem fördert das Überleben unseres Organismus, indem es beim Kampf gegen Infektionen hilft. Es begünstigt über die Regulation des Sexualtriebs die Produktion von Fortpflanzungszellen und die Produktion von Milch bei stillenden Müttern das Überleben der Spezies. Auch bei Männern haben die Hormone – wie zum Beispiel Serotonin, Cortisol und Dopamin – Einfluss auf ihre Stimmung.
Tatsächlich ist es aber oft so, dass mit Männern oft nur ein Hormon in Verbindung gebracht wird: das Testosteron. Als hätten Männer nur dieses eine Hormon – was natürlich Unsinn ist. Allerdings gibt es einen Grund, warum es so im Fokus steht: Es gilt als Synonym für überbordende Männlichkeit. Diesem Hormon wird vieles unterstellt: „Testosteron ist das wichtigste Hormon der Männer! Es beeinflusst deine Männlichkeit, Kraft und Muskeln“, schrieb die Männerzeitschrift „Men’s Health“. Oder die Zeitschrift „Focus“: „Testosteron – so erhalten Männer ihre Potenz bis ins Alter“.
Auf einmal um drei Jahrzehnte jünger
Der französische Neurologe und Professor für Experimentalmedizin Charles-Édouard Brown-Séquard erregte vor rund 130 Jahren auf einer Sitzung der Biologischen Gesellschaft in Paris Aufsehen. Er verkündete, dass er ein Mittel gefunden habe, mit dem er sich drei Jahrzehnte jünger fühle. Mit 72 Jahren fühlte er sich häufig schwach, unkonzentriert, und seine Laborarbeit fiel ihm immer schwerer.
Also hatte er einen Selbstversuch unternommen. Er setzte eine Mixtur aus Hodenblut, Samen und dem Saft zerstampfter Hoden von jungen Hunden oder Meerschweinchen an. Das zähflüssige Elixier spritzte er sich direkt ins Blut. Eine an sich schmerzhafte Prozedur, die sich nach seinen eigenen Schilderungen jedoch wohl lohnte. Schon nach der ersten Injektion sei seine Kraft zurückgekehrt, die Müdigkeit war weg, sagte er auf seinem Vortrag. Er sei wieder die Treppen hochgekommen, und sein Urinstrahl habe wieder mehr Druck gehabt, und er habe „auch seine Frau wieder besuchen können“.
Was Brown damals herausgefunden hat, war, dass die Hoden eine biologisch wirkungsvolle Substanz absondern: Testosteron. Nach den heutigen Erkenntnissen weiß man aber, dass Brown-Séquards Hodensaft vermutlich so wenig Sexualhormon enthalten hat, dass er keine echte Wirkung haben konnte. Mit seinem Selbstversuch hat er also wohl eher den Placeboeffekt entdeckt.
Gewaltverbrechen haben Ursachen
Es gibt viele Mythen, um das „Männerhormon“, neueste Forschungen können diese größtenteils nicht belegen. Dass Testosteron Aggressivität befördert, konnte in Studien immer nur indirekt belegt werden, so wiesen Gewaltverbrecher häufig einen höheren Spiegel des Hormons auf. Parianen erklärt, warum: Die Wirkung von Testosteron seit eine individuelle Frage des Wesens und der Erlebnisse. Das heißt: Gewalt gehöre bei Menschen, die mehr Erfahrung mit Gewalt gemacht haben, eher „zum Standardverhaltensrepertoire“. „Wer dagegen noch nie jemanden geschlagen hat, der tut es wahrscheinlich auch mit Testosteron nicht.“
Ein Hormon allein macht jemanden nicht aggressiv – das hat tatsächlich mehr mit der Persönlichkeit und mit den eigenen Bewältigungsmechanismen zu tun. Und wie bei allen Hormonen ist es auch bei Testosteron so, dass es sich aufbaut, wenn wir es brauchen. Der Irrglaube, man brauche mehr von diesem „Männerhormon“, wie dies gerne in Männerzeitschriften oder in dubiosen Youtube-Videos angepriesen wird, ist also falsch. Dennoch besteht die Möglichkeit, durch Steroide das Hormon unnatürlich hoch steigen zu lassen, dann kann es zu einem Überschuss kommen – und man wird aggressiver.
Den Beischlaf koordinieren
Testosteron sei eher das Hormon, das uns auf Herausforderungen einstelle, auf schnelles Denken und auf Risikosituationen, schreibt Parianen. So habe Testosteron zwar eine Tendenz zum „Risiko und Draufgängertum“: „Es hat seinen großen Auftritt in den dramatischen Szenen. In Zeiten von Knappheit, Herausforderung und Krieg, in der Paarungssaison. Dann läuft es zur Höchstform auf und bringt jede Menge Testosteron-inspiriertes Verhalten hervor. In Friedenszeiten beschränkt es sich darauf, den Beischlaf zu koordinieren.“
Aber haben Männer tatsächlich so etwas wie Wechseljahre, weil sie im Alter weniger Testosteron haben? Der Testosteronspiegel schießt in der Pubertät bei Jungen erstmals nach oben. Dadurch wächst der Penis, die Barthaare fangen an zu sprießen, und die Muskeln wachsen. Testosteron ist wichtig, damit die Hoden anfangen, Spermien zu produzieren. Aber das allein reicht nicht, wie Parianen schreibt. Testosteron spiele zwar bei der Spermienqualität eine wichtige Rolle, allerdings seien unsere Sexualhormone wesentlich flexibler, als manche annehmen. Der Körper wandele die ganze Zeit Testosteron in Östrogen um, deshalb ist Östrogen auch im männlichen Gehirn oft noch viel mehr vorhanden als Testosteron.
Nicht so drastisch wie bei Frauen
Männer brauchen dennoch mehr davon für das Ausleben einer gesunden Sexualität – und nur ein wenig Östrogen. Bei Frauen wiederum ist es umgekehrt. Ab etwa Mitte 30 sinkt der Testosteronspiegel bei Männern dann kontinuierlich ab, etwa um ein Prozent jährlich. Dennoch ist bei ihnen die Hormonumstellung im späteren Lebensabschnitt wesentlich sanfter, weshalb die Auswirkungen nicht so drastisch sind wie bei Frauen.
Ob Männer nun wirklich an so etwas wie Wechseljahren leiden, ist in der Forschung deshalb umstritten. Studien zeigen, dass nur etwa jeder zehnte Mann die entsprechenden Symptome wie Abgeschlagenheit, Lustlosigkeit und Verlust von Muskelmasse aufweist. Zudem treten diese „Wechseljahre des Mannes“, als Andropause bezeichnet, nicht plötzlich innerhalb von einigen Jahren auf, wie das bei Frauen der Fall ist. Es ist vielmehr ein schleichender Prozess, der grob zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr eintreten kann. Und: Der Testosteronspiegel sinkt zwar, kommt aber nicht vollständig zum Erliegen. Der Endokrinologe Michael Zitzmann betonte in einem Interview, es gebe keine Wechseljahre beim Mann. „Ein gesunder 80-Jähriger kann genauso viel Testosteron haben wie ein junger Mann mit 20.“
Wenn Männer Väter werden
Die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) schreibt, entsprechende Symptome, die manche Männer im späteren Alter aufwiesen, seien oft durch einen Testosteronmangel hervorgerufen, doch könne dieser durch eine Therapie behoben werden. Während bei Frauen die Veränderung der Spiegel von Östrogen und Progesteron eine biologische Ursache hat, ist bei Männern der Hormonwert oft durch Diabetes, Herz- und Nierenerkrankungen, aber auch Leistungssport und Übergewicht beeinflusst.
Allerdings ist der Testosteronspiegel immer Schwankungen unterworfen, so kann der Wert im Blut in einer sehr viel früheren Phase im Leben absinken: wenn Männer Vater werden. In einer Langzeitstudie auf den Philippinen haben Forscher festgestellt, dass werdende Väter vor der Geburt deutlich mehr Testosteron im Blut haben als danach, berichten die Forscher um Christopher Kuzawa von der Northwestern University im Fachmagazin „Proceedings of the National Academy of Science“. Interessant ist dabei: Je intensiver sich Väter um ihre Kinder kümmern, desto mehr sinkt der Wert im Blut.
US-Forscher von der University of Michigan haben im Jahr 2014 sogar festgestellt, dass sich der Hormonhaushalt eines Mannes der Partnerin anpassen kann, wenn diese schwanger ist. Der Psychologe Robin Edelstein und sein Team kamen zu dem Fazit, dass Männer „ein bisschen mit schwanger“ sind. Für ihre Studie entnahmen sie 59-mal Frauen, die zum ersten Mal schwanger waren, und ihren Partnern Speichelproben. Wie diese Hormonveränderung ausgelöst wird, sei aber unklar, schrieben die Forscher im „American Journal of Human Biology“.
Parianen weist noch darauf hin, dass der Testosteronspiegel auch bei Männer sinke, wenn sie in einer monogamen Beziehung leben. „Bei einer offenen Beziehung ist dies übrigens nicht der Fall“, fügt sie hinzu.
Wie komplex der Zusammenhang zwischen Hormonen, Gefühlen und Verhalten in Wirklichkeit ist, zeigen die Medizinsoziologin Rebecca Jordan-Young und die Bioethikerin Katrina Karkazis in ihrem Buch „Testosteron“: Es werde „verkannt, missbraucht und hochgejazzt“ und sein komplexes Wesen banalisiert. Immer dann aber, wenn es darum gehe, dass Testosteron männlich, stark, gierig und sexy mache, handele es sich oft um „Humbug“, der wissenschaftlich nicht haltbar sei. Mythen, wie dass die Östrogene die liebevolle Mutter am Herd steuern und Testosteron den Mann als wilden Kerl im Krieg oder an der Börse steuern, halten sich dennoch immer wieder recht hartnäckig.