In London wendet sich die Stimmung. Premier Cameron spricht mittlerweile von den „schwersten Krawallen seit Menschengedenken“.

London - Was den Stimmungsumschwung ausgelöst hat, wer vermag es zu sagen? Vielleicht sind es die im Internet kursierenden Bilder einer schwarzen Bewohnerin des Armenviertels von Hackney im Osten Londons. „Hier geht es um einen Toten in Tottenham, nicht um eure Lust an der Zerstörung“, ruft die Frau den Plünderern zu und fuchtelt mit ihrer Krücke. „Wir sollten für eine gemeinsame Sache kämpfen, nicht die Läden leer räumen.“ Vielleicht sind die Briten auch angerührt von dem millionenfach angeklickten Filmchen eines verletzten Jugendlichen. Erst helfen die Plünderer dem etwa 15-Jährigen auf die Beine, dann räumen sie ihm gnadenlos den Rucksack leer.

 

Oder ist es der gramgebeugte Ladenbesitzer, der in den Trümmern seines Lebensmittelgeschäfts dem Fernsehsender BBC Auskunft gibt? Ob er bald wieder aufmachen könne? Da schluchzt Shiva Haran und sagt: „Das weiß ich nicht, ich habe doch gar kein Geld.“ Ob es ein Einzelschicksal war oder doch die Bilderflut von tobenden Feuern, leergefegten Läden und vermummten Jugendlichen – an diesem Dienstag erfasst Großbritannien das Gefühl: Genug ist genug.

Premier kehrt aus seinem Urlaub zurück

Vielleicht geht der Ruck ja auch in jenem Moment durchs Land, als man den Premierminister nicht mehr in italienischen Strandlokalen, sondern im dunklen Anzug vor seinem Büro in der Downing Street sieht. Er verurteile uneingeschränkt die Krawalle der vergangenen drei Tage, sagt der hastig aus dem Urlaub zurückgekehrte David Cameron. Er verspricht seinem verunsicherten Land, es werde „alles Nötige“ zur Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung getan: Statt bisher 6000 sollen ab sofort 16.000 Bobbies in der Hauptstadt Präsenz zeigen. Und er droht den Randalierern kühl mit dem Gesetz: „Wer alt genug ist, Straftaten zu begehen, ist auch alt genug, die Konsequenzen zu tragen.“

Tagelang haben Wohlmeinende die „schwersten Krawalle seit Menschengedenken“, von denen Scotland Yard spricht, heruntergeredet und zu erklären versucht – von Armut und Entfremdung war die Rede, von Sozialkürzungen und Polizeiwillkür. Vieles davon ist noch immer gültig. Doch in der Nacht zum Dienstag haben die im Nord-Londoner Stadtteil Tottenham begonnenen Plünderungen und Brandstiftungen auf ein Dutzend anderer Viertel in der Metropole übergegriffen, haben Nachahmer-Täter aktiviert in Birmingham, Bristol, Liverpool und Nottingham – ja selbst im schläfrigen Uni-Städtchen Oxford. Nun werden die Erklärungsversuche überlagert von den Schicksalen Betroffener, von den Millionenschäden, nicht zuletzt von der Angst breiter Bevölkerungsschichten – auch in Tottenham.

„Busse anzünden ist nicht okay“

Dort, am Ausgangspunkt des Geschehens, versammeln sich etwa 200 Bürger zu einer Kundgebung am Hochkreuz auf der High Road. Von dem Obelisk, der eine Gebetsstelle aus dem Mittelalter markiert, geht es rechts zum Einkaufszentrum Tottenham Hale, wo die geplünderten Läden noch immer versperrt sind. Dahinter liegt die Ausfallstraße Ferry Lane, auf der am Donnerstag ein 29-jähriger Mann von der Polizei erschossen wurde. Ein Protestmarsch gegen Mark Duggans gewaltsamen Tod war am Samstag der Ausgangspunkt für die Gewaltexplosion.

Geradeaus markiert eine Polizeiabsperrung jene 400 Meter der Straße, die der Mob in eine Schneise der Verwüstung verwandelt hat. Ein Pfarrer verliest Psalmen, ein Jugendarbeiter berichtet von seiner Arbeit. Jetzt redet David Lammy Klartext. „Schaltet eure Gehirne ein und geht nach Hause“, wendet sich der örtliche Unterhaus-Abgeordnete von Tottenham an die jungen Leute in seinem Stadtviertel. „Protestieren ist okay. Aber Busse anzünden, die Leute zur Arbeit bringen sollen, ist nicht okay.“

Noch immer keine Erklärung für Mark Duggans Tod

Der Verkehrslärm übertönt den Appell beinahe, und viele der Zuhörer wollen ihn ohnehin nicht hören. „Lammy ist ein Verräter“, schimpft Makola, 29. „Er redet immer nur von zerstörten Wettbüros. Dabei hat die Polizei jemanden getötet, darüber sind wir wütend.“ Tatsächlich haben die Behörden auch fünf Tage nach dem Zwischenfall noch immer keine umfassende Erklärung dafür, wie und warum Duggan zu Tode kam. Fest steht allerdings eines: Die weitverbreiteten Gerüchte von seiner „Exekution durch zwei Kopfschüsse“ sind völlig haltlos. Duggan starb durch einen Schuss in die Brust, teilt der Untersuchungsrichter am Dienstag mit.

Ohnehin geben die Plünderer und Randalierer nicht zu erkennen, dass ihnen an der Aufklärung des Todesfalls gelegen ist. Mittags veröffentlicht Scotland Yard erste Fotos der Überwachungskameras. Zu sehen sind überwiegend junge Leute, Männer, Frauen, Jugendliche beiderlei Geschlechts, Schwarze, Weiße, Braune – das Londoner Völkergemisch eben. Mehr als 500 Festnahmen verzeichnet die Polizei, über 100 Straftäter sind bereits angeklagt, am Dienstag erlag ein 26-Jähriger den Schussverletzungen, die er bei den Unruhen erlitten hat.

Beinahe die Hälfte der Inhaftierten sind jünger als 20, der jüngste Einbrecher zählt elf Jahre. „Ich appelliere an alle Eltern, ihre jungen Leute heute Nacht nicht auf die Straße gehen zu lassen“, sagt der Polizeipräsident Tim Godwin und spricht von „robustem Vorgehen“. Erstmals spricht Scotland Yard über den Einsatz von Gummigeschossen. Kein Zweifel – die Stimmung in London ist umgeschlagen.