Ein halbes Jahr nach dem Amoklauf eines 18-Jährigen kämpft München noch immer mit den Folgen. Am Ort der Bluttat haben längst nicht alle den Weg zurück in den Alltag gefunden – viele sind verunsichert.

München - Die Teddys sehen aus wie kleine Schneemänner. Plastikblumen, Fotos, abgebrannte Kerzen und Abschiedsbriefe sind unter der Schneedecke verschwunden: Ein halbes Jahr nach dem Amoklauf am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München halten trotz der klirrenden Kälte Menschen an dem provisorischen Gedenkort inne. Hier erschoss ein 18-Jähriger am 22. Juli neun Menschen und sich selbst. Viele Menschen wurden verletzt, manche traumatisiert - und eine ganze Stadt für viele Stunden in einen Ausnahmezustand versetzt.

 

Wiedereröffnung der McDonalds-Filiale

Motiv des jugendlichen Amokläufers vermutlich: Er fühlte sich von Mitschülern gemobbt. Fast 60 Mal feuerte er, ehe er sich selbst richtete. Die Ermittler fanden später 57 Patronenhülsen, die der Tatwaffe zugeordnet werden konnten.

In der McDonald’s-Filiale gegenüber des Einkaufszentrums schoss er zuerst auf die vorwiegend jungen Gäste. Allein hier gab es fünf Tote. Er hatte zuvor sogar versucht, über Facebook mit einer „Einladung“ Bekannte anzulocken - die aber nicht kamen.

In dem McDonald’s-Restaurant, nach der Tat mit dunklen Sichtschutz abgesperrt, ist drinnen nichts mehr wie vorher. Es bekam das neue McDonald’s Outfit mit viel Holz und neuem Küchen- und Bestellsystem. „Für uns war klar, dass wir in keinem Fall das Restaurant in der ursprünglichen Form wieder eröffnen werden“, sagt Unternehmenssprecher Philipp Wachholz. McDonald’s habe sich zugleich jedoch ganz bewusst entschieden, das Restaurant weiterzuführen. „Für uns war die Wiedereröffnung ein wichtiger Schritt, um den Weg zurück zur Normalität zu finden.“ Terror und Gewalt dürften nicht das Leben bestimmen. Sehr viele Mitarbeiter hätten ausdrücklich in der Filiale weiterarbeiten wollen, einige seien auf ihren Wunsch versetzt worden.

„Alle haben Existenzangst“

Ein halbes Jahr später ist der „Mäcki“ gut besucht. „Ja, man denkt daran“, sagen die Gäste, dann wenden sie sich wieder ihren Pommes oder ihrem Kaffee zu. Eine junge Angestellte guckt ratlos. Sie hat gerade hier angefangen. Was vor einem halben Jahr geschehen ist? Nein, davon hat sie nichts gehört.

Im OEZ herrscht Alltagstrubel. Käufer strömen durch die Einkaufsmeile. Aber noch bei weitem nicht so viel wie früher, meinen viele. 30 Prozent weniger Besucher kämen auch jetzt noch, sagen die Chefin eines Zeitungsladens und auch der Inhaber eines Modeladens. „Alle haben Existenzangst“, ruft der Obsthändler unweit der provisorischen Gedenkstätte wütend. Und das nur, „weil der Depp geschossen“ und die Polizei ihn nicht gehindert habe.

Offiziell bestätigen lassen sich die geschäftlichen Rückgänge nicht. „Es ist alles normal, seit November sind wir auf Vorjahresniveau“, sagt Center-Manager Christoph von Oelhafen. Er beruft sich dabei auf Ergebnisse von Kundenzählanlagen, die im Schnitt täglich 33 000 bis 35 000 Besucher für das OEZ registrieren.

Die Betreiber haben in Zusammenarbeit mit der Polizei das Sicherheitskonzept auf den Prüfstand gestellt. „Wir haben unsere Sicherheitsabläufe überarbeitet und mit der Polizei abgestimmt, den Wachschutz aufgestockt“, sagt von Oelhafen. Doppelt so viele Wachleute sind nun im OEZ unterwegs. Auch wenn ziemlich klar ist: Auch sie hätten diese Bluttat nicht verhindern können. Ebenso wenig wie die Videokameras, deren Installation Innenminister Thomas de Maizière (CDU) auch in Einkaufszentren als Konsequenz aus dem Amoklauf und den Anschlägen rechtlich erleichtern und ausbauen will.

Mehr Angst, mehr Kontrollen

Mehr Angst, und damit der Ruf nach mehr Kontrollen: Es müsse gleich an den Zugängen von Einkaufszentren mehr Kontrollen geben, sagt Nesrin Tok, die mit ihrem Mann Ömer Tok neben dem OEZ ein Bekleidungsgeschäft führt. „Ich habe Freundinnen, die trauen sich nicht mehr ins OEZ.“ In der Türkei gebe es Sicherheitsschleusen wie an Flughäfen. Das müsse doch auch in Deutschland möglich sein. „Wir sind in einem reichen Land.“

Ihr Mann sorgt sich nach dem Amoklauf vor allem um die drei Kinder. „Die Schule hat überhaupt keine Kontrolle.“ Er erinnert an die Geiselnahme von hunderten Schülern, Eltern und Lehrern durch nordkaukasische Terroristen in der nordossetischen Stadt Beslan 2004.

Terrorangst, geschürt durch islamistische Anschlage in Paris, Brüssel, Istanbul, aber auch bei Würzburg und Ansbach, hatte Menschen unter anderem auch am Stachus in Panik versetzt. Sie rannten um ihr Leben, verletzten sich bei Stürzen oder sprangen gar auf der Flucht vor vermeintlichen Terroristen aus Fenstern. An gut 60 Orten in der Stadt meldeten die Menschen Attacken - die sich alle nicht bestätigten.

Juristische Untersuchungen dauern an

Inzwischen geht die juristische Aufarbeitung weiter. Die Waffe soll sich der 18-Jährige im sogenannten Darknet besorgt haben. Dort suchte er den Ermittlungen zufolge gezielt nach einer Glock-Pistole und 250 Schuss Munition. Die Staatsanwaltschaft München ermittelt gegen den mutmaßlichen Verkäufer der Waffe. Der 31-Jährige war im August bei Marburg festgenommen worden. Ihm wird unter anderem fahrlässige Tötung in neun Fällen vorgeworfen. Das Verfahren könne „voraussichtlich innerhalb weniger Wochen“ abgeschlossen werden, sagt die zuständige Oberstaatsanwältin Gabriele Tilmann.

Vor dem OEZ stehen Menschen in der Kälte an der provisorischen Gedenkstätte vor verschneiten Plüschtieren. Im Sommer zum Jahrestag des Amoklaufs soll ein fester Gedenkort mit den Namen der Opfer entstehen. Ein Wettbewerb läuft, die Angehörigen sollen in die Planung einbezogen werden. Fest steht schon, dass ein Baum zu dem Gedenkort gehören soll - er wird im Frühjahr gepflanzt.