Über Jahrhunderte wurde die Runkelrübe in Europa protegiert. Doch nun fällt ihr Schutz weg, und unter den Produzenten dürfte es hoch hergehen.

Region: Verena Mayer (ena)

Offenau - Ob Hannibal schon hier ist? So weit ist es ja nicht von Bietigheim-Bissingen nach Offenau, 50 Kilometer. Andererseits ist es eher unwahrscheinlich, ihn hier ausfindig zu machen. Das Gelände ist wirklich groß, fast wie ein Dorf. Anlagen sind dort errichtet, so riesig, dass die Arbeiter nur wegen ihrer neongelben Jacken sichtbar sind. Und dann diese vielen anderen Zuckerrüben. So aufgehäuft zu einem Bergmassiv sehen dann doch alle ziemlich gleich aus. Egal ob einer ein Hannibal ist oder von einer anderen Sorte. Wahrscheinlich würde nicht mal Rainer Oexle seine Rüben in dieser Zuckerfabrik wiedererkennen, obwohl er sich fast ein Jahr lang um Hannibal und dessen Brüder gekümmert hat.

 

Pflege braucht eine Zuckerrübe ziemlich viel, wenn man es ihrem blassen Äußeren auch nicht ansieht. Es sind eben ihre inneren Werte, die sie so wertvoll machen. Nichts von dem, das sie in sich trägt, kann nicht genutzt werden. Am wertvollsten aber ist natürlich ihr Zuckergehalt. Ein hoher Zuckergehalt bedeutet einen hohen Zuckerertrag, und hohe Erträge sind ja immer gut. Man könnte sagen, die Zuckerrübe ist ein sehr spezielles Früchtchen. Diejenigen, die mit ihr Geld verdienen, nennen die Zuckerrübe aber lieber „die Königin der Feldfrüchte“.

Allerdings könnte es passieren, dass die Zuckerrübe von ihrem Thron geschubst wird. Die Europäische Union hat einige der Regeln abgeschafft, die für den Zuckermarkt galten. Weil das ziemlich strenge Regeln waren, ist künftig ziemlich viel erlaubt. Was das für das Zuckerbusiness bedeutet? Rainer Oexle, der Landwirt aus Bietigheim-Bissingen, weiß es nicht. Klaus Schwab, der Chef der Südzucker-Fabrik in Offenau, hat auch keine Ahnung. Wenn nicht mal Zuckerrübenprofis sagen können, wie die Zuckerzukunft aussieht, sagt das ja auch was. Es könnte also aufregend werden.

Eine Königin hat Ansprüche

Eine Königin, das ist klar, hat Ansprüche. An den Boden – tiefgründig sollte er sein, locker und gut durchlüftet, sonst wird das nichts mit ihren langen Pfahlwurzeln. Nässe darf sich auch nicht stauen, weil sonst der Acker die schweren Maschinen nicht packt. Auch beim Platz ist sie anspruchsvoll: In eine Mulde darf nur ein einziges Samenkorn abgelegt werden, sonst wächst gar nichts. Zudem muss das Klima bestimmte Voraussetzungen erfüllen: Halbwegs warm und halbwegs feucht soll es sein, dann wächst die Rübe am besten. Und im Spätsommer sollte die Sonne häufig strahlen, damit die Rübe viel Zucker einlagern kann.

Wer Rainer Oexles Rübenberge sieht, kann sich denken, dass es den Königinnen bei ihm ziemlich gut geht. Mehr als 700 Tonnen hat er dieses Jahr ernten können, ihr Zuckergehalt beträgt überdurchschnittliche 18,2 Prozent. Aber, das muss man der Gerechtigkeit halber sagen, ohne Napoleon hätte es Rainer Oexle nicht so weit gebracht – und die Zuckerrübe schon gleich dreimal nicht. Ohne den Kaiser hätte sie niemals Königin werden können.

Bis vor rund 200 Jahren stammte der Zucker von weit entfernten Zuckerrohrplantagen. Dann verhängte Napoleon im Jahre 1806 seine Kontinentalsperre. Diese hatte zur Folge, dass Großbritanniens Schiffe so gut wie keinen Hafen mehr in Europa anlaufen und somit auch keinen Zucker aus den Kolonien entladen konnten. Praktischerweise jedoch hatte der Berliner Chemiker Andreas Marggraf anno 1747 bereits entdeckt, dass die hiesige Runkelrübe nicht nur wegen ihrer nahrhaften Blätter interessant ist, sondern auch wegen des in ihr enthaltenen Zuckers. Und praktischerweise hatte sein Schüler Frank Karl Achard anno 1801 bereits die erste Rübenzuckerfabrik errichtet. Folgerichtigerweise konnte es die Zuckerrübe im Schutz der Kontinentalsperre zu nie geahnter Bedeutung bringen. Doch obwohl die Sperre 1814 aufgehoben worden ist und obwohl die Produktion von Rohrzucker günstiger ist als von Rübenzucker, stammt der allergrößte Teil des Lebensmittelzuckers, der in Europa im Umlauf ist, nach wie vor aus Rüben.

Die Pressschnitzel-Schnecke

Die Herrscher mögen gewechselt haben, ihre Absichten blieben, was die Rübe angeht, dieselben: Die Verbraucher und die Süßwarenindustrie sollen keine Zuckernot leiden, und die Bauern sollen eine halbwegs verlässliche Einkommensquelle haben, die keinen Preisschwankungen ausgesetzt ist. So wurde die Rübe weiter protegiert. Man könnte deshalb auch sagen, bei der Königin der Feldfrüchte handelt es sich um einen politischen Günstling.

Zum Glück bekommt die Rübe ihre Transformation zum feinen Korn nicht mit. Kurz nach ihrer Ankunft in der Zuckerfabrik wird sie von einem starken Wasserstrahl betäubt. Von der Waschanlage führt ihr Weg über Stationen, die seltsame Namen tragen, wie zum Beispiel die Pressschnitzelschnecke, oder die furchteinflößend erscheinen, wie zum Beispiel die mehrstufige Verdampfstation, oder auf die beides zutrifft, wie zum Beispiel auf den sehr hohen Extraktionsturm. In ihm nimmt die nunmehr zerhäckselte Rübe ein heißes Bad, bei dem sich der Zucker aus ihren Schnitzeln löst. Das süße Wasser (für Profis: Rohsaft), das dabei entsteht, wird anschließend so lange gereinigt und eingedampft, bis sich Kristalle bilden. Aber erst wenn auch noch ein schwindelerregender Schleudergang und ein Aufenthalt in der Trockentrommel überstanden sind, ist die Verwandlung perfekt – und die transformierte Rübe kann, hübsch verpackt, wieder zu sich kommen. Ihre Majestät ist revitalisiert.

Die Zeit, in der in den Zuckerfabriken Tag und Nacht die Maschinen laufen, heißt im Fachjargon Kampagne. Der Begriff stammt aus der Militärsprache und macht deutlich, wie überaus akribisch die Rübenverarbeitung geplant werden muss, damit alles klappt. Wie ein Feldzug. Anders als bei einem Feldzug ist bei Rübenkampagnen jedoch von Anfang an ziemlich klar, was auf die Zuckerproduzenten zukommt. Weil im Zuckergeschäft so ziemlich alles ganz genau geregelt ist.

Deutschland darf jährlich 2,9 Millionen Tonnen für den Lebensmittelmarkt prodzieren

Mit der Menge Zucker, die Deutschland pro Jahr für den Lebensmittelmarkt produzieren darf, fängt es schon mal an: 2,9 Millionen Tonnen. So gibt es die Europäische Kommission vor. Diese Menge – Experten sprechen von der Zuckerquote – wird auf die 20 Zuckerfabriken aufgeteilt, die wiederum Verträge mit den Rübenbauern in ihrem Verbreitungsgebiet schließen, deren Zahl und Ertrag in der Folge auch limitiert ist. In der vergangenen Saison gab es in Deutschland 29 500 Landwirte, die auf 254 000 Hektar Land Zuckerrüben anbauten. Geregelt ist auch der Preis, den die Bauern für ihre Quotenrüben bekommen: 26 Euro pro Tonne, mindestens. Mit Zuschlägen können es aber auch mal 40 Euro sein. Kein Vergleich zu anderen Feldfrüchten. Die Produzenten wiederum können sicher sein, dass sie für eine Tonne Weißzucker nie weniger erlösen als die festgelegten 404 Euro, die Profis Binnenmarktpreisniveau nennen. Auf dem Weltmarkt, zum Vergleich, schwankten die Preise in den vergangenen acht Jahren zwischen 200 und 600 Euro. Sollte das Binnenmarktpreisniveau sinken, gäbe es Unterstützung von der EU.

Das Werk, in dem all diese Regeln niedergeschrieben sind, heißt Zuckermarktordnung. Diese Ordnung gilt für alle Länder der Europäischen Union, die wiederum insgesamt nicht mehr als 13,3 Millionen Tonnen Zucker auf den Lebensmittelmarkt streuen dürfen. Das entspricht 80 Prozent des europäischen Verbrauchs, der Rest stammt aus streng regulierten Importen. Damit, so die Idee, gibt es stets genügend Zucker zu hohen stabilen Preisen. Beruhigend einerseits für die Rüben- und Zuckerproduzenten – unfair andererseits für alle anderen. Wenn es feste Abnahmemengen und garantierte Preise gibt, gibt es keinen Wettbewerb. Und wenn es keinen Wettbewerb gibt, gibt es keine gerechten Preise. Und diese Vorgaben sind schon weniger restriktiv als die in der ersten Zuckermarktordnung, die von 1968 bis 2006 gegolten hat.

Damals war die Abnahmemenge größer und der Garantiepreis höher, Importe waren ausgeschlossen, und wenn Überschüsse – die es trotz Regulierung regelmäßig gab – auf dem Weltmarkt verschleudert wurden, erhielten die Verschleuderer dafür Subventionen. Doch nun ist es auch mit dem Rest an Ordnung vorbei. Mit der kommenden Zuckerrübensaison wird die Zuckerquote abgeschafft, und den Mindestpreis für die Landwirte wird es auch nicht mehr geben.

Die jüngste Kampagne dauerte 88 Tage

Und dann? Rainer Oexle wird seinen Zuckerrübenanbau ausdehnen. Statt auf acht Hektar steckt er dieses Jahr auf 20 Hektar Samen von Hannibal in die Erde. Der 43-Jährige hat lange überlegt, ob das die richtige Entscheidung ist. Aber wenn es die Möglichkeit gibt, mehr Ware zu verkaufen, wäre es betriebswirtschaftlich ja Quatsch, nicht mehr Ware zu produzieren.

Klaus Schwab, der Chef der Zuckerfabrik in Offenau, wird sie ihm gerne abnehmen. Er lässt seine Maschinen künftig länger laufen. Die jüngste Kampagne dauerte 88 Tage, von Mitte September bis Mitte Dezember, mittelfristig soll sie auf 120 Tage ausgedehnt werden. Eine längere Laufzeit, na klar, ist wirtschaftlicher. Wenn der Extraktionsturm, die mehrstufige Verdampfungsanlage und all die anderen Maschinen länger ausgelastet sein sollen, kommen Klaus Schwab die Mehr-Rüben von Rainer Oexle gerade recht.

Andererseits, das haben die Männer natürlich einkalkuliert: Oexle wird nicht der einzige Rübenbauer sein, der so denkt. Und Schwabs Fabrik ist nicht die einzige, die so handelt. Und wenn in ganz Europa plötzlich überall mehr Rübenzucker produziert wird, wird das den Preis drücken. Marktwirtschaft eben.

Als die Zuckermarktordnung im Jahr 2006 erstmals gelockert wurde, haben allein in den folgenden vier Jahren mehr als 70 Zuckerfabriken in der EU dichtgemacht und damit mehr als 15 000 Arbeitsplätze abgeschafft. Rund 120 000 Landwirte haben den Zuckerrübenanbau eingestellt. Seit klar war, dass die Zuckerquote im Jahr 2017 komplett abgeschafft wird, haben sehr viel Experten sehr viele Untersuchungen angestellt. Alle prognostizieren dasselbe: Produktionssteigerung und Preisverfall. Überleben werden die Besten. Marktwirtschaft eben.

Am Rande: Ob der Verbraucher von den neuen Marktmöglichkeiten profitiert, ist ungewiss. 80 Prozent des hiesigen Zuckers gehen direkt an die Süßwarenindustrie. Und ob die Keks-, Limonaden- und Schokoladenfirmen ihre mutmaßlich günstigeren Einkaufspreise weitergeben, wird sich weisen.

Früher hat Rainer Oexle auch Milch produziert. 25 Kühe lebten in seinem Stall. Vor drei Jahren, also bevor die berühmte Quote für Milch abgeschafft wurde, hat er sie verkauft. Zu viel Aufwand für zu wenig Ertrag. Sollte seine Rechnung mit der Zuckerrübe mittelfristig nicht aufgehen, wird Rainer Oexle noch mehr Weizen anbauen oder Raps oder Mais. Aber jetzt hofft er erst mal. Der Boden in Bietigheim-Bissingen ist gut, das Klima passt auch, und seine Rübensorte heißt Hannibal. Also bitte: Lang lebe die Königin!