Eine Prachtmeile war die Esslinger Bahnhofstraße wohl nie. Aber sie tut ein wenig so. Seit etwa zwanzig Jahren ist sie Fußgängerzone. Die hohen, zu bestimmten Anlässen geschmückten Stahlbögen geben der Straße einen Rahmen – das hat sonst keine Fußgängerzone in Esslingen. Zudem ist es der meistbegangene Weg zwischen den wichtigen Altstadt-Eckpunkten Bahnhof und Markt.
Am südlichen Ende dieser Prachtmeile, die nicht wirklich eine ist, zerfranst es sich ein wenig. Die Bahnhofstraße mündet nicht direkt am Bahnhof und auch nicht auf dem Bahnhofplatz, sondern am Rande des Zentralen Omnibusbahnhofs. Hier öffnet sich der Blick auf eine verkehrsreiche Straße, den Altstadtring. Hinter dem Ring schließen sich weitere fußgängerfeindliche Flächen an: die Bahngleise, der kanalisierte Neckar, die B 10. Immerhin grüßen am ausgefransten Ende der Nicht-Prachtmeile zwei Kneipen wie zum Abgesang an das, was mal war – Gaststätten, die sehr gut in eine Bahnhofsgegend passen, aber keine klassischen Wohlfühl-Oasen für Touristen oder Esslinger aus dem Mittelstand darstellen. Ausgerechnet hier, an diesem ausfransenden Ende, wo es mit der Esslinger Herrlichkeit ohnehin schon dahin geht, entsteht ein großer toter Fleck in der Einkaufslandschaft.
Ein Strukturwandel hat negative und positive Seiten
Galeria, das wahlweise auch Karstadt oder Galeria Karstadt Kaufhof genannt wird, macht in diesen Januartagen dicht. Der Vollsortimenter war einer der wichtigsten Frequenzbringer in der Esslinger Bahnhofstraße. Auch im benachbarte Geschäft des Modehauses Kögel war immer Bewegung. Hier ist im Januar ebenfalls Schluss. Zwar gibt es in der Bahnhofstraße immer noch viele kleinere und mittelgroße Geschäfte wie etwa eine Osiander-Buchhandlung, zudem Imbisse, Cafés und Restaurants. Aber nirgendwo sonst in der Stadt zeigt sich der Strukturwandel im Handel so schamlos offen wie auf den letzten Metern des Boulevards, wo wie zum Trost nur noch die Gaststätten Kroneneck und Gleis 2 dem scheinbaren Niedergang trotzen.
Strukturwandel heißt aber nicht, dass alles den Bach runtergeht. Es bedeutet nur, dass sich etwas grundlegend verändert. Als die Stahlbögen in die Bahnhofstraße einbetoniert wurden, hatte noch niemand einen Schimmer davon: Online-Handel, Wertewandel, Energiekrise. Damals platzte die Konsumlust aus allen Nähten, heute trifft sie sich beim Tee im Vintage- und Secondhand-Laden. Und so entsteht Neues. Die Theatermacherin Daniela Urban ist gerade dabei, mit dem Festo-Mitarbeiter und Fotografen Jan Merkle das Café Kano’s im Unteren Metzgerbach zu betreten. Sie freuen sich auf das Frühstück – das Café preisen beide als das Beste in der ganzen Stadt an. Aber es ist nicht nur diese eine Einkehrmöglichkeit, die ihnen gefällt. Sie zählen weitere auf, auch einige Geschäfte in der Umgebung. „Es entwickelt sich ein zartes Pflänzchen“, meint Daniela Urban. „Der Beginn eines zarten Pflänzchens“, drückt Jan Merkle es vorsichtiger aus. Der Untere Metzgerbach steht symptomatisch für das, was kommen könnte. Die kleine Straße liegt gar nicht so weit von der Bahnhofstraße entfernt, beide Wege kreuzen sich fast am nördlichen Ende, aber eben nur fast. Wer den Unteren Metzgerbach nicht sucht, findet ihn auch nicht unbedingt. Es ist eher eine Straße, die zufällig entdeckt wird. Neben den Gastronomiebetrieben mit Namen wie Findelkind und Fräulein Margot finden sich dort auch einige Geschäfte wie das Tragbar oder das Hochzeitshaus.
Straßen, die Hoffnung machen
Ein weiteres Hoffnung machendes Beispiel für die Veränderungen ist die Küferstraße. Hier finden sich wieder Vintageläden, Spezialitätengeschäfte und Gastronomie, dazwischen Raritäten wie ein Nähmaschinenladen. Zudem strahlt die Straße einen besonderen, etwas morbiden Charme aus, was an den Laternen und den Häusern liegen mag, womöglich aber auch an der Breite: Sie ist nicht so ausladend wie die Bahnhofstraße, aber auch nicht so eng wie die zahlreichen Altstadtgassen, die zwar für Esslingens Ausstrahlung wesentlich sind, sich aber nicht als belebte Einkaufsstraßen eignen.
Einige Dinge entwickeln sich von selbst, andere müssen von der Stadtverwaltung entwickelt werden. So lehnte Oberbürgermeister Matthias Klopfer am Montagabend in seiner Neujahrsrede die Vorstellung, der Markt könne es richten, vehement ab. „Auf keinen Fall!“, rief er ins Mikrofon. Es gibt Pläne, die Innenstadt zu verdichten, auch für die leer stehenden Gebäude gibt es Ideen: Im Haupthaus von Kögel nahe dem Markt könnte eine Bücherei, bei Karstadt die Volkshochschule einziehen. Aber das alles ist vage und wird mit Sicherheit nicht in den nächsten Monaten passieren. Für Menschen wie Daniela Urban und Jan Merkle machen diese toten Flecken nicht einmal einen allzu großen Unterschied: Sie gehören zu einer Kundschaft, die Filialen ohnehin meidet, auch nicht gerne in „großen Klötzen“ bummelt und sich nach Individualität sehnt. Dass Kögel als Familienunternehmen schließt, finden sie schade. Aber Karstadt weinen sie keine Träne nach.
Stadtentwicklung in Esslingen
Bücherei und VHS
Nach den Vorstellungen der Esslinger Stadtverwaltung soll die Volkshochschule (VHS) von der Mettinger Straße ins frei werdende Karstadtgebäude ziehen, die Bücherei in das gleichfalls leer werdende Haupthaus von Kögel. Im Bebenhäuser Pfleghof wiederum sollen kulturelle Einrichtungen wie die städtischen Museen zusammengeführt werden. Hiervon verspricht sich die Verwaltung eine Belebung der Innenstadt. Im Februar steht dazu eine Abstimmung im Gemeinderat an.
Bahnhof- und Marktplatz
Beide Plätze haben eine zentrale Bedeutung für Esslingen, und mit beiden Plätzen ist die Stadtbevölkerung unzufrieden. Verwaltung und Gemeinderat haben das Thema auf der Agenda. Bis zum Stadtjubiläum 2027 soll zumindest der Marktplatz aufgehübscht worden sein. Zum Bahnhofsvorplatz gibt es inzwischen eine Sozialraumanalyse. Wissenschaftlerinnen haben eine Reihe von Handlungsempfehlungen vorgelegt. Hier ist 2024 mit ersten Änderungen zu rechnen.