Noch immer steht die Gemeinde Schwieberdingen unter Schock, weil ein angehender Erzieher 16 Kinder in einer Kita missbraucht hat. Experten und Betreiber überlegen, wie das Risiko minimiert werden kann.

Schwieberdingen - Die Fassungslosigkeit in der 11 000-Einwohner- Gemeinde Schwieberdingen ist mit Händen zu greifen. Ausgerechnet in der privaten Kita, die von Mitarbeitern des großen Arbeitgebers Bosch genutzt wird, soll ein 20-jähriger angehender Erzieher 16  Kinder zwischen 2016 und 2017 sexuell missbraucht haben – und davon Bilder gemacht haben. In den sozialen Netzwerken reichen die Kommentare von Sätzen wie „Unendlich traurig“ bis zu Aufrufen zur Lynchjustiz.

 

Die Leiterin der betroffenen Kita „Piccolo Paradiso“, Julia Uebachs, ist wegen der bestürzenden Vorfälle im Dauereinsatz. „Wir haben sofort eine Risikoanalyse durchgeführt“, erklärt sie. Man arbeite intensiv an neuen, praxistauglichen Regeln, die Eltern und Erzieher würden einbezogen. So wurde ein Elternabend mit der Ludwigsburger Beratungsstelle Silberdistel organisiert.

Die Ermittlungen sind abgeschlossen, wie Polizeisprecher Peter Widenhorn sagt. Bei der Wohnungsdurchsuchung seien kinderpornografische Bilder gefunden worden – auch Fotos vom Missbrauch der Kinder in der Kita. Ins Internet habe der Verdächtige sie aber nicht gestellt. Noch dramatischer ist der Fall in Heilbronn, wo der Leiter einer Kita über 10 000 Bilder und 900 Videos online getauscht und einen Jungen über Jahre hinweg sexuell missbraucht haben soll. Bei aller Betroffenheit bleibt die Frage: Was können Eltern, Erzieher oder Kitabetreiber tun? Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, sieht Defizite: Nicht in allen der bundesweit 55 000 Kitas gebe es Schutzkonzepte. Notwendig sei ein Vier-Augen-Prinzip in den Schlaf- und Sanitätsbereichen: „Viele Kitas überlegen, die Wickelräume offen und einsehbar zu gestalten.“

Fotos vom Missbrauch auf dem Computer

Die Täter gingen strategisch vor und versuchten, das Vertrauen des Kindes zu gewinnen. „Oft sind es besonders engagierte und beliebte Kollegen“, so Rörigs Erfahrung. Am wichtigsten sei, Missbrauch stets für möglich zu halten, ohne alle unter Generalverdacht zu stellen.

Das wichtigste Ziel: Nicht sprachlos sein

Welche gesetzlichen Vorschriften gibt für Betreuungseinrichtungen? Elena Gihr, die Sprecherin des Kultusministeriums, erklärt dazu: Kitas erhalten nur dann eine Betriebserlaubnis, wenn sie von ihren Mitarbeitern Ausbildungsnachweise und ein aktuelles Führungszeugnis verlangen. Allerdings hat das weder in Heilbronn noch in Schwieberdingen geholfen – die Täter waren unauffällig.

Viele Einrichtungen haben Präventionskonzepte verabschiedet. Etwa die 8000 Kindergärten, die im Verband katholischer Kindertageseinrichtungen zusammengefasst sind. „Alle Kitas sind angehalten, sich zu überlegen, was im Alltag konkret geändert werden kann“, sagt die Referentin Johanna Meißner. Das wichtigste sei, über das Thema zu sprechen: „Viele Erzieherinnen sind sprachlos, man muss sich trauen, Beobachtungen anzusprechen.“

Ihr Rat: Bei einem Verdacht erst einmal eine Kollegin informieren und eine zweite Meinung einholen – auch um falsche Verdächtigungen auszuschließen. Auch Eltern und andere Kinder sollten aufmerksam sein und Beobachtungen mitteilen.

Kinder sollen nie allein mit einer Person sein

Klar ist aber auch: Eine lückenlose Kontrolle ist nicht möglich. „Niemand wird 100-prozentige Sicherheit bieten“, erklärt Reinhold Grüner, der Leiter des Landesjugendamtes. Auf Landesebene wird als Reaktion auf die Vorfälle ein Kinderschutzkonzept erarbeitet: Alle Mitarbeiter sollen intensiv fortgebildet werden, im Ministerium gibt es zeitnah eine Sondersitzung der Facharbeitsgruppe.

Eine Regel zieht sich durch alle Konzepte: Kinder dürfen im Kindergarten nie allein mit nur einer Person sein – nicht nur beim Wickeln. Bleibt die Frage: Sind Heilbronn und Schwieberdingen Einzelfälle oder markieren sie einen Trend?

Die Polizei hat im vergangenen Jahr bundesweit 1612 Opfer registriert, davon 1107 Mädchen. Die Zahlen sind im Vergleich mit den Vorjahren konstant. Der Missbrauchsbeauftragte Johannes-Wilhelm Rörig erkennt keine reale Steigerung, aber oft eine neue Qualität: „Immer mehr Täter filmen ihre Taten und begehen damit ein zweites Verbrechen.“