Nun, fast 13 Jahre später, war die Bühne am Mittwochabend eine kleinere, es ging in Duisburg in der WM-Qualifikation gegen Nordmazedonien (1:2). Aber die Chance, die der Nationalstürmer Timo Werner vergab, die war nicht minder groß. Und der öffentliche Schock über diese Einlage und der beißende Spott hinterher nahmen ähnliche Dimensionen an wie anno dazumal, bei Mario Gomez in Wien. Die plumpen Stammtischparolen a la „den hätte meine Oma gemacht“ hatten jedenfalls Hochkonjunktur.
Was also ist passiert in Duisburg?
Timo Werner, so geht die Szene, wird in der 80. Minute beim Stand von 1:1 von Ilkay Gündogan freigespielt. Er steht frei vor dem Tor, zentral, sechs Meter ist die Entfernung. Werner trifft den Ball nicht richtig, er will schießen, aber das, was er da macht, ist nicht schießen. Es ist irgendwas Anderes.
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Irgendwie berührt Werner den Ball, die Kugel kullert am Tor vorbei. Und ja, es ist nicht übertrieben dies zu behaupten: Jeder Kreisligastürmer würde sich schämen, wenn er so einen nicht macht. Denn was ein Stürmer in so einer Szene machen muss, ist nicht mehr als die einfachste Übung, die es für ihn gibt: Fuß hinhalten, Ball reinschieben, jubeln, fertig.
Löws Einschätzung
„Den muss Timo normalerweise machen“, so lautete hinterher das Urteil Joachim Löws – das „normalerweise“ hätte sich der Bundestrainer dabei sparen können.
„Timo macht sich selbst wahrscheinlich die größten Vorwürfe“, sagte Löw später noch. Und: „Das war ein Knacks für die Mannschaft, dass wir die Chance ausgelassen haben. Wir müssen das aufzeigen und darüber sprechen.“
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Tja, ob reden da hilft, man weiß es nicht. Denn einem Stürmer helfen nur Tore, das ist seine Währung, und, nun ja, von denen hat Werner derzeit ein bisschen wenig auf dem Konto. Ähnlich gestaltet sich das bei seinen Einsatzminuten in der DFB-Elf. Beim Start ins EM-Jahr hat sich Werner sehr viel mehr als eine kleine Nebenrolle ausgemalt. 13 Minuten gegen Island, 14 Minuten in Rumänien, jetzt 34 Minuten gegen Nordmazedonien – Werner ist etwas mehr als zwei Monate vor dem Start des Turniers keine Stammkraft mehr bei Joachim Löw.
Der 25-Jährige musste dreimal zunächst von draußen zusehen, wie das Bayern-Duo Serge Gnabry und Leroy Sané zusammen mit seinem Chelsea-Kollegen Kai Havertz die Offensivreihe besetzte – und die Fragen, die sich aufdrängen, sind die: Hängt Werners Fehlschuss gegen Nordmazedonien genau damit zusammen, macht es ihn zumindest ein bisschen erklärbarer, obwohl es da für einen Stürmer seiner Klasse da eigentlich nichts zu erklären gibt?
Ein Wohlfühlspieler
Fakt ist: Timo Werner benötigt Vertrauen seines Trainers, er muss sich geschätzt und geborgen fühlen. Er ist ein so genannter Wohlfühlspieler. Das war zu seinen Zeiten bei seinem Heimatclub VfB Stuttgart so (wo er sich dann irgendwann aus verschiedenen Gründen nicht mehr so wohl fühlte), das war bei RB Leipzig so, das ist jetzt beim FC Chelsea und war schon immer in der DFB-Elf so.
Und, was soll man sagen – sowohl beim FC Chelsea und bei der DFB-Elf spürt Werner dieses Vertrauen nicht so, wie er es in seiner Karriere schon mal gewohnt war. Das nagt an seinem sensiblen Gemüt. Und das kann, obwohl es nie zu beweisen sein wird, am Ende dazu führen, dass Werner wie jetzt geschehen sogar selbst die einfachsten Chancen nicht reinmacht. Weil er eben selbst für diese einfachsten Dinge Vertrauen und Selbstvertrauen bracht – das er aktuell nicht im Überfluss hat.
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Nach seinem Wechsel von RB Leipzig zum FC Chelsea jedenfalls durchlebt der Angreifer gerade eine neue Phase in seiner Karriere. Er muss sich in einer neuen Liga behaupten und in einem neuen Land einleben. Fünf Tore nach 28 Premier-League-Partien sind keine gute Quote für einen, der im Leipziger Trikot ein Torgarant war. „Es ist sein erstes Jahr in der Premier League“, gab Joachim Löw nun zu bedenken.
Letztens bekam Timo Werner vor einem Millionenpublikum einen Anpfiff, dass es ihm in den Ohren klingelte. „Timo!“, schimpfte sein neuer Trainer Thomas Tuchel lauthals, über die Außenmikrofone an der Stamford Bridge war es bestens zu hören: „Wie lange spielst du noch links?? Du spielst rechts! Du spielst seit ‚ner Viertelstunde links!“
Es läuft nicht rund
Fakt ist: Den selbstbewussten Werner, der steil geschickt wird, die Füße auf den Rasen trommelt und eiskalt abschließt, ihn gibt es derzeit nicht. Er fühlt sich in London „fast schon heimisch“, doch irgendetwas hakt. „Es ist frustrierend, ihm zuzuschauen“, kommentierte kürzlich der TV-Experte Rio Ferdinand.
Für die Investition von 53 Millionen Euro hat sich Chelsea mehr versprochen als ein Tor in 13 Premier-League-Spielen 2021. In 1000 Minuten Torflaute vergab Werner so viele Chancen, dass enttäuschte Fans YouTube-Zusammenschnitte bastelten. Einmal trat er bei Ausführung eines Eckballs gegen die Fahne. An der Entlassung von Tuchels Vorgänger Frank Lampard gab sich Werner öffentlich eine Mitschuld.
Und bei der DFB-Elf scheint Löw gerade im besten Löw-Stil eine falsche Neun seinem einzigen klassischen Stürmer vorzuziehen, auch wenn Werner kein typischer Ein-Kontakt-Verwerter ist. Und egal, wie der Bundestrainer seine Offensivpositionen besetzt: Sollte Thomas Müller zur EM zurückkehren, würde es für Timo Werner noch enger werden.
Kommt Werners Antwort?
Eines aber ist auch klar: Abschreiben sollte man den Torjäger mit Blicks aufs Turnier im Sommer noch lange nicht, im Gegenteil. Denn Schwächephasen sind für Werner nichts Neues. Er erlebte sie in Leipzig und auch schon im DFB-Trikot, und immer wieder antwortete er irgendwann mit dem, was er am besten kann: Mit Toreschießen.
Und so hat sich auch die grundsätzliche Wertschätzung von Joachim Löw nicht geändert. „Timo ist ein brandgefährlicher Spieler, der eine unglaubliche Schnelligkeit hat, er hat bei uns auch sehr viele Tore geschossen“, sagte der Bundestrainer: „Auch wenn er zuletzt nicht von Anfang an gespielt hat, weiß ich, was der Timo kann. Mit Timo bin ich sehr zufrieden.“
Das allerdings sagte Löw vor dem Spiel gegen Nordmazdonien. Und damit vor diesem Fehlschuss, der historische Dimensionen annahm.