Nach dem gescheiterten Putsch wird in Militär und Justiz brutal aufgeräumt. Doch die Frage nach den Drahtziehern ist noch nicht beantwortet.

Istanbul - Die Bilder sind verstörend. Da schlägt ein bärtiger Mann wie wild mit seinem Gürtel auf vor ihm kniende türkische Soldaten ein, die sich gerade auf der Bosporus-Brücke dem Mob „ergeben“ haben. Noch schrecklicher das Video eines auf dem Boden liegenden Soldaten, dessen Kopf offenbar gerade abgetrennt wurde. Ein grimmiger bärtiger Salafist in Camouflage-Uniform sagt in die Kamera: „Wir haben vier getötet, und den fünften kriegen wir auch.“ Angeblich wurden Soldaten auch die Brücke hinunter geworfen. Fotos und Videos zeigen die Lynchjustiz der Sieger einer gesetzlosen Nacht, in der das türkische Militär zum fünften Mal gegen eine demokratisch gewählte Regierung putschte und den Kampf verlor.

 

In Istanbul sehen sich die Leute am Samstagmittag die Bilder auf ihren Smartphones an, posten sie weiter und bleiben im Übrigen erstaunlich ungerührt. „Es ist vorbei, wir haben gewonnen“, sagt eine Frau. Es ist ein heißer Sommertag, rund um den zentralen Taksim-Platz sind deutlich weniger Menschen als normalerweise auf der Straße, nur um das historische Denkmal für den Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk stehen rund 30 Männer mit roten türkischen Fahnen, singen patriotische Lieder aus der Osmanenzeit und skandieren den Namen des Staatspräsidenten „Recep Tayyip Erdogan!“

Tausende Militärangehörige festgenommen

„Es ist wichtig, dass wir die öffentlichen Plätze füllen“, sagt Ugur Uysal, ein 35-jähriger Kameramann mit schwarzem Vollbart. Die Muezzine der Moscheen haben die Menschen die ganze Nacht während der Kämpfe in der Hauptstadt Ankara dazu aufgerufen, auf die Straße zu gehen und ihre Unterstützung für Erdogan zu zeigen. Am Samstagabend ist eine große Kundgebung in Istanbul. Ugur Uysal glaubt fest daran, was die politischen Führer seither öffentlich sagen: dass die Putschisten eine „kleine Minderheit“ im Militär seien, deren Ziel es sei, den Präsidenten zu stürzen – Anhänger der Bewegung des in den USA lebenden Islampredigers Fethullah Gülen, den Erdogan als seinen Erzfeind betrachtet. „Gülen wollte bei uns ein Regime wie Khomeini im Iran errichten“, sagt Uysal und fügt hinzu, es wäre richtig, die Putschisten hinzurichten, wie es ein Sprecher der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP bereits fordert, obwohl die Todesstrafe in der Türkei seit 2004 wegen des angestrebten EU-Beitritts abgeschafft wurde.

Am Nachmittag ist Istanbul zwar ruhig, der Verkehr rollt wieder auch über die in der Nacht gesperrten Bosporusbrücken, aber aus Ankara werden noch immer Kämpfe gemeldet, dort sollen zwei Einheiten des Heeres und der Luftwaffe noch Widerstand leisten. Noch immer überschlagen sich die Meldungen: die Agenturen melden 265 Tote und mehr als 1400 Verletzte, fast 3000 Militärangehörige sollen festgenommen worden sein, auch in Regionen, in denen es gar keine Kämpfe gab.

Der festgesetzte Leiter des Generalstabs, Hulusi Akar, kann unter unbekannten Umständen befreit werden. Sieben türkische Soldaten und ein Zivilist setzen sich mit einem Militärhubschrauber nach Griechenland ab und beantragen politisches Asyl . Die Türkei verlangt die sofortige Auslieferung dieser „Verräter“. Der mutmaßliche Anführer der Putschisten, Oberst Muharrem Köse, heißt es jetzt, soll im März wegen seiner engen Verbindungen zu Gülen entlassen worden sein.

Experten zweifeln, dass Erdogans Erzfeind Gülen hinter dem Putsch steckt

Die Regierung nutzt den Putschversuch umgehend für eine massive Säuberung des Justizapparats und zur gnadenlosen Abrechnung mit politischen Gegnern, für die sie offenbar zuvor schwarze Listen angelegt hat. Gegen Mittag erklärt ein Sprecher, dass 2745 Richter sofort suspendiert werden würden; später werden zehn Mitglieder des Staatsrates verhaftet, des höchsten Verwaltungsgerichts des Landes. Ministerpräsident Binali Yildirim tritt vor die Kameras und erklärt, dass die Nation den Putschisten „die richtige Antwort“ gegeben habe. Er bedankt sich bei „allen Bürgern, die sich den Panzern entgegenstellten“. Dann heißt es plötzlich, dass der türkische Teil des Nato-Stützpunkt Incirlik vom loyalen Militär abgeriegelt worden sei; von dort sollen die Jets der Putschisten aufgestiegen sein. Am Nachmittag dann verurteilen im Parlament in Ankara alle vier vertretenen Parteien gemeinsam den Putschversuch gegen ihre „großartige Nation“.

Nach den dramatischen Stunden versuchen die Politiker und die Bürger der Türkei, sich zu erklären, was in der Nacht zum Samstag geschah und was der teilweise dilettantisch und surreal anmutende Putsch zu bedeuten hat. Deniz Baykal, der frühere Chef der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP, legt auf Twitter nahe, dass die regierende AKP selbst in den Putsch verwickelt sein könne oder ihn jedenfalls für sich ausgenutzt habe. Er schreibt: „In mehr als 40 Jahren meines politischen Lebens habe ich Putsche und Folter erlebt. Aber solch ein tragikomisches Putschszenario gab es noch nie.“ Der für die US-amerikanische Johns-Hopkins-Universität tätige Istanbuler Türkei-Experte Gareth Jenkins sagte dieser Zeitung, er glaube nicht, dass die Gülenisten hinter dem Putsch stünden, weil sie ihn sicher besser vorbereitet und international abgesichert hätten; außerdem sei ihre Zahl anders als in der Polizei im türkischen Militär relativ klein. Er vermutet, dass eine „nicht unbedingt kleine Gruppe“ im Militär die klassische Rolle der Generäle als Hüter des säkularen türkischen Staates habe ausfüllen wollen. Sie hätten vermutlich darauf gesetzt, dass ein großer Teil der Bevölkerung sich auf ihre Seite schlagen würde „und als das nicht geschah, hatten sie keinen Plan mehr.“

Erdogan verstehe den realen Putsch als eine Bestätigung seiner Verschwörungstheorien, wonach ihm finstere, aus dem Ausland gesteuerte Mächte stürzen wollten, sagt Jenkins. „Das wird ihn noch tiefer in die Paranoia treiben.“ Er glaubt, dass der Putsch dem Präsidenten kurzfristig politisch nutzen, langfristig aber schaden werde, denn er habe die Chance verspielt, sich international wieder als Demokrat zu erweisen. Stattdessen nutze er die Lage für seinen autoritären innenpolitischen Kurs aus. „Beweise gegen 2700 Richter zaubert man nicht einfach aus dem Hut. Es gab offenbar schwarze Listen von missliebigen Personen, die man jetzt abarbeitet. Das ist ein verheerendes Signal für die türkische Demokratie.“