Jahrzehntelang war die Jagd nach vier Tagessiegen bei der Vierschanzentournee erfolglos geblieben. Nun gelang der Grand Slam zweimal hintereinander. Dafür gibt es Gründe.

Sport: Dirk Preiß (dip)

Bischofshofen/Stuttgart - Es ist ja nicht so, dass der Japaner als solcher zu übermäßigen Gefühlsregungen neigt. Es musste also Besonderes geschehen sein, als am Sonntagabend im österreichischen Bischofshofen die 67. Vierschanzentournee der Skispringer zu Ende ging. Und das war es ja auch.

 

Ryoyu Kobayashi war zum achten Mal seit dem 30. Dezember 2018 für einen Wertungssprung bei der Tournee auf eine Schanze geklettert, zum siebten Mal war er der beste Springer des jeweiligen Durchgangs, sechsmal war er zuvor freudig erregt gewesen – beim achten Mal war der Jubel ungleich größer. Kobayashi landete zunächst nach einem Flug auf 137,5 Meter, dann musste er warten, doch als ihn auch Markus Eisenbichler, der Führende nach dem ersten Durchgang, nicht hatte übertrumpfen können, schrie er seine Freude laut hinaus. Denn in diesem Moment war klar: Er hat sich in den Geschichtsbüchern des Wintersports verewigt. Als Sieger von Bischofshofen, vor Dawid Kubacki (Polen) und Stefan Kraft (Österreich). Als Gewinner der Tournee-Gesamtwertung, vor den Deutschen Eisenbichler und Stephan Leyhe. Und als erst dritter Skispringer nach Sven Hannawald und Kamil Stoch, dem es gelungen ist, alle vier Wettbewerbe dieses Schanzen-Quartetts zu gewinnen. „Er ist herzlich willkommen in unserem Club“, gratulierte Hannawald.

Das Skispringen als Mysterium

Die Faktenlage war also klar im tief verschneiten Bischofshofen, wo noch am Samstag die Qualifikation auf Sonntag hatte verschoben werden müssen – und doch standen im Auslauf nicht wenige, die sich das gerade Geschehene nicht so recht erklären konnten. Einer davon war Martin Schmitt, der sagte: „Das Skispringen bleibt ein Mysterium.“

Nun ist der Schwarzwälder kein Neuling an den Schanzen. Im Gegenteil: Der heute 40-Jährige sprang von 1997 bis 2014 im Weltcup, feierte dort 28 Siege, wurde Team-Olympiasieger und viermal Weltmeister. Doch wer meint, als solcher müsse er alle Geheimnisse des Skispringens erschöpfend erforscht haben, der irrt. Eines dieser Geheimnisse mündet in die Frage: Wieso ist innerhalb von zwei Jahren möglich, was zuvor in 65 Jahren nur einmal gelungen war?

Jahrzehntelang schien es unmöglich, alle vier Springen der Tournee zu gewinnen. Dann kam Hannawald im Winter 2001/2002 und vollbrachte das Kunststück erstmals. Ein Rekord, so schien es, für die Ewigkeit. 15 Jahre lang rangen die Helden der Lüfte um eine Wiederholung, alle scheiterten – bis im vergangenen Jahr Kamil Stoch aus Polen eine dieser seltenen Serien hinlegte. Die nun Kobayashi scheinbar mühelos wiederholte.

Skispringen ist fairer geworden

„Vielleicht ist es einfach Zufall“, rätselte Schmitt, der als TV-Experte die Tournee hautnah erlebte – sich mit dieser lapidaren Erklärung aber nicht zufrieden geben wollte. Früher, meinte er also noch, sei selbst eine Topform kein Garant für Siege gewesen. Weil auch die größten Favoriten Pech haben konnten. Mit dem falschen Wachs in der Anlaufspur oder einer Windböe zum falschen Zeitpunkt. Doch „das Skispringen“, sagte Schmitt, „ist gerechter geworden“.

Die Anlaufspur ist meist aus Keramik und dauerhaft gekühlt, für schlechte Windverhältnisse gibt es Bonuspunkte, für gute Punktabzug. Schmitt sagte zwar auch: „Das Skispringen war noch nie so sensibel wie heute.“ Klar aber ist: Konserviert ein Springer seine Topform über mehrere Wochen, ist der Erfolg in Serie wahrscheinlicher geworden. Doch eine solche Ausnahmeform muss man erst einmal haben. Und auch hier wird es teils unerklärlich.

Zwar analysieren nun alle Experten begeistert die Sprünge von Ryoyu Kobayashi. „Er ist dem perfekten Sprung unglaublich nahe“, sagte Hannawald. Und Schmitt lobte die Übergangsphase des Japaners nach dem Absprung: „Das macht er besser als alle anderen. Er springt sehr aggressiv und bekommt die Ski dennoch schnell zum Körper.“ Warum manch einem anderen vom einen auf den anderen Winter aber das Fluggefühl oder das Timing für den Absprung abhanden kommt, ist oft rational kaum zu erklären. Der Pole Stoch, zum Beispiel, hatte in diesem Jahr ebenso keine Siegform wie der deutsche Olympiasieger Andreas Wellinger oder die Tourneesieger Peter Prevc (2016) und Kraft (2015). Also nutzte Kobayashi seine Dominanz doppelt aus – für einen Tourneesieg mit historischem Faktor. Oder wird das Außergewöhnliche zur Normalität?

Wann kommt der vierte Grand Slam?

Dreimal in 67 Jahren ist der Grand Slam nun gelungen. Dass zügig ein viertes Mal dazukommt, bezweifeln die Experten dennoch. „Es werden insgesamt nicht viele dazukommen“, sagte Hannawald, „denn es müssen Paradejahre sein.“ Schmitt verwies darauf, dass die Spitze der Springerszene eigentlich viel dichter beieinander liegt als früher und es mehr Topspringer gebe. Und eine Ausnahmeform, wie sie Kobayashi nun hatte, „hat man manchmal“, aber nicht immer.

Das ist im Skispringen eine Regel – die von Ausnahmen bestätigt wird. Zum Beispiel von Ausnahmespringer Ryoyu Kobayashi.