Viele französische Juden fühlen sich nach dem Terrorangriff auf einen jüdischen Supermarkt im Stich gelassen. Die Nation hat sich mit den massakrierten Journalisten solidarisiert – doch es starben auch vier jüdische Geiseln und drei Angehörige der Sicherheitskräfte.

Paris - Ein schönes Paar sind die beiden. Wären sie nicht Liebende, Ruben und Rebecca Sabah könnten als Geschwister durchgehen: dasselbe dunkle Haar, derselbe tiefe Ernst in ihren Augen, dieselben ebenmäßigen Züge,  und sie sind auch Charlie. Die nach den Terroranschlägen auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ um die Welt gehenden solidarischen Worte prangen in dicken Lettern auf dem T-Shirt von beiden, aber die zwei sind noch mehr. „Je suis Charlie, Juif, Flic“, lautet die vollständige Botschaft, „Ich bin Charlie, Jude und Polizist.“ Nicht nur Journalisten starben vergangene Woche im Kugelhagel. Es starben auch vier jüdische Geiseln und drei Angehörige der Sicherheitskräfte.

 

Charlie und Polizist, das sind der 27-jährige Ruben und die ein Jahr ältere Gefährtin erst jetzt geworden, im Geiste der Solidarität. Juden waren sie schon immer, in Frankreich lebende Juden. Und sie wollen es bleiben – trotz der 2014 um 100 Prozent gewachsenen Zahl antisemitischer Angriffe, trotz einer Auswanderungswelle von 7000 Emigranten. Zu den Lebenden werden sich am Dienstag die Toten gesellen. Die sterblichen Überreste der in einem Pariser Supermarkt für koschere Lebensmittel ermordeten Juden werden nach Jerusalem überführt. Die Angst der französischen Juden ist gewachsen.

„Wir haben das Gefühl, nicht wirklich zur Nation zu gehören“

Viele französische Juden fühlen sich im Stich gelassen. Die Nation hat sich am Sonntag mit den massakrierten Journalisten „Charlie Hebdos“ solidarisiert. Vier Millionen Menschen waren im Namen von Toleranz und Freiheit auf die Straße gegangen. Die Freiheit, die sie meinten, war die Meinungsfreiheit gewesen. „Ich bin Charlie“ prangte auf unzähligen Transparenten und Ansteckern. „Je suis juif“, ich bin Jude, diese Botschaft brachten fast ausschließlich diejenigen unters traumatisierte Volk, die tatsächlich Juden waren. „Wir haben das Gefühl, nicht wirklich zur Nation zu gehören“, hat eine jüdische Demonstrantin in ein Bündel Mikrofone gesprochen. „Die wachsende Judenfeindlichkeit ist den meisten Franzosen kein Grund, sich zu empören.“ 

Frankreichs Regierung versucht, Versäumtes nachzuholen. Vor den 717 jüdischen Schulen des Landes, die mit stacheldrahtbesetzten hohen Zäunen und Stahltoren bereits an  Hochsicherheitstrakte erinnern, werden bis Mittwoch insgesamt 4700 Polizisten und Soldaten aufmarschieren. Innenminister Bernard Cazeneuve  hat auch einen Präfekten ernannt, der die Sicherheitsmaßnahmen koordinieren soll.

Zum Zeichen dafür, dass die Regierung den Ernst der Lage erkannt hat, war Cazeneuve nach Montrouge geeilt, hatte in dem Pariser Vorort die jüdische Schule Yaguel Yaakov aufgesucht und den dort versammelten Eltern die Kunde vom zusätzlichen Polizeischutz überbracht. Nicht weit von der Schule, zu der auch eine Synagoge gehört, war am vergangenen Donnerstag der spätere Geiselnehmer Amedy Coulibaly unterwegs gewesen, hatte eine Polizistin erschossen und einen Passanten schwer verletzt. Im Rückblick spricht aus Sicht der Eltern viel dafür, dass der 32-Jährige ursprünglich die Schule ins Visier nehmen wollte. „Die Polizistin hat uns gerettet“, vermuten nicht wenige der zu Ehren des Ministers erschienenen Väter und Mütter.

Von Lassana Bathily spricht am Montag von offizieller Seite niemand. Dabei ist das, was der 2006 aus Mali eingewanderte Muslim am Tag der Geiselnahme im jüdischen Supermarkt getan hat, für Frankreichs jüdische Gemeinde ermutigender als der künftige Sicherheitsaufwand. Für den 24-jährigen Lagerarbeiter sind die im Lande lebenden Juden Franzosen wie alle anderen Bürger auch. „Ob Juden, Christen oder Muslime, alle sind wir Brüder“, hat Bathily im Fernsehsender BFMTV gesagt. Er hat auch nach dieser Maxime gehandelt.

Der Mann aus Mali wird zum Helden

Als der Terrorist Coulibaly am Freitag wild um sich schießend ins Geschäft gestürmt war, saß der Lagerarbeiter im Untergeschoss und betete. Ein Kollege und fünf Kunden stürmten zu ihm die Treppe hinab, berichteten von vier Toten, darunter Bathilys jüdischer Freund Yohan Cohen. Bathily  öffnete die Tür zu einem Kühlraum, schaltete Licht und Kühlung aus, versteckte sich mit den Fliehenden im Innern. Vergeblich versuchte er dort, die Schicksalsgefährten dafür zu gewinnen, mit dem Lastenaufzug die Flucht ins Freie zu riskieren. Am Ende floh der Lagerarbeiter allein. Von den Sicherheitskräften der Mittäterschaft verdächtigt, verbrachte er über eine Stunde in Handschellen, bis er dann zur rettenden Tat schreiten konnte.

Bathily zeichnete für die Polizei einen Lageplan des Geschäfts, auf dessen Grundlage der Einsatzleiter die Erstürmung des Supermarkts befahl. Der Rap-begeisterte Angestellte, der als Berufsschüler von den Einwanderungsbehörden fast nach Mali abgeschoben worden wäre, gilt seitdem als Held. Im Internet mehren sich die Aufrufe, ihm eine Verdienstmedaille zuzusprechen.

Neben der sich in Frankreich wie ein Lauffeuer verbreitenden Geschichte des Retters Bathily macht am Montag noch eine ganz andere Nachricht Mut: Der Front National (FN) hat zu Wochenbeginn nicht viel zu melden. Nachdem sich am Vortag halb Frankreich und die halbe Welt verbrüdert haben, sehen sich die Rechtspopulisten ins Abseits gedrängt. Dem Versuch der FN-Chefin Marine Le Pen, eigene Kundgebungen zu organisieren und Macht zu demonstrieren, war wenig Erfolg beschieden. Im südfranzösischen Beaucaire kamen zu einer Veranstaltung Le Pens gerade einmal 1000 Menschen. Gewiss, die FN-Vorsitzende ist hart im Nehmen. Sie wird versuchen, die Initiative zurückzugewinnen. An diesem Dienstagmorgen bereits bittet sie zur Pressekonferenz ins EU-Parlament. Nicht nur in Frankreich, in ganz Europa will sie sich wieder Gehör verschaffen. Doch der Aufruf, Brücken zu kappen zur EU, zu Einwanderern, zu Muslimen, dürfte nach dem kollektiven Bekenntnis zu Toleranz und Freiheit noch befremdlicher klingen als ohnehin schon.