Hinter ihrer Funktionstüchtigkeit verbarg sich im Privaten oft ein Lebensgefühl des Schwindels, der Haltlosigkeit: Mit dem Tod von Helmut Kohl tritt die „Flakhelfer-Generation“ ab. Als junge Männer haben sie in der Nachkriegsgesellschaft das Modell Deutschland mit aufgebaut.

Berlin - Der Tod von Helmut Kohl lenkt noch einmal den Blick auf eine Generation, die unsere deutsche Nachkriegsgesellschaft nachhaltig geprägt hat. Für sie – jedenfalls für deren männlichen Teil – hat sich der Begriff der „Flakhelfer-Generation“ eingebürgert. Dafür ist ein Blick zurück in die Geschichte nötig. Anfang 1943 ordnete das NS-Regime den „Kriegseinsatz der Jugend bei der Luftwaffe“ an, und die erste Gruppe von 15- bis 17-jährigen Schülern ersetzte das Büffeln auf der Schulbank durch den militärischen Dienst an den Flugabwehrstellungen. Diesen 1926 und 1927 Geborenen folgten 1944 und 1945 noch die Jahrgänge 1928 bis 1930.

 

Rechnet man diese fünf Jahrgänge von 1926 bis 1930 zur „Flakhelfer-Generation“ – auch wenn nicht jeder von ihnen, Helmut Kohl beispielsweise nicht mehr, tatsächlich zum Einsatz als Flakhelfer heran gezogen wurde – dann enthält die Liste ihrer Angehörigen zahlreiche prominente Namen: neben Helmut Kohl die Politiker Hans-Dietrich Genscher und Heiner Geißler, den ehemaligen Bundesbankpräsidenten Karl-Otto Pöhl, die Publizisten Joachim Fest und Joachim Kaiser, die Schriftsteller Günter Grass, Martin Walser und Hans Magnus Enzensberger, die Philosophen Robert Spaemann, Odo Marquard und Jürgen Habermas, die Soziologen Niklas Luhmann und Ralf Dahrendorf, den Theologen Joseph Ratzinger, den Historiker Christian Meier und den Kabarettisten Dieter Hildebrandt. Sie alle haben nach dem Krieg Karriere gemacht und dieser Zeit ihren Stempel aufgedrückt.

Der Einfluss der „Peer Group“

Der Zugehörigkeit zu einer Generation misst man heute eine größere Bedeutung bei als noch vor einigen Jahrzehnten. Früher sprach man dem Elternhaus und dem sozialen und religiösen Milieu, in dem jemand aufwuchs, die prägende Kraft für den künftigen Werdegang eines Menschen zu. Aber die Schwächung der bürgerlichen Kleinfamilie, vor hundert Jahren von der Psychoanalyse als Schritt in die „vaterlose Gesellschaft“ beschrieben, hat dazu geführt, dass der Einfluss der Eltern auf die Erziehung immer geringer und derjenige der „Peer Group“,der Gleichaltrigen, immer stärker wird. In den Sozialwissenschaften hat deshalb als erster Karl Mannheim in einem Aufsatz von 1928 vom „Generationszusammenhang“ gesprochen. Er meinte damit das Lebensgefühl einer Altersgruppe, die durch ein gemeinsam erlebtes Kollektivereignis geprägt worden ist, auch wenn die einzelnen Angehörigen dieser Gruppe daraus später gegensätzliche Schlussfolgerungen gezogen haben.

Man bekommt die Generation der letzten Kriegsteilnehmer, die zu den Akteuren des Wiederaufbaus wurden, am besten in den Blick, wenn man sie aus zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet: aus der Binnenperspektive ihrer Angehörigen und aus der Außenperspektive der Nachgeborenen. Für die Binnensicht mag hier der Stuttgarter Politikwissenschaftler Martin Greiffenhagen (1928 – 2004) stehen, der 1988 seine Autobiografie unter dem Titel „Jahrgang 1928“ veröffentlicht hat. Greiffenhagen sieht seine eigene Generation dadurch geprägt, dass die Flakhelfer zu jung waren, um noch als reguläre Soldaten im Zweiten Weltkrieg zu kämpfen, aber alt genug, um das NS-Regime als selbstverständlichen Lebenshintergrund wahrzunehmen.

1945 als Schlüsseldatum

Die „letzten Helden des Führers“ waren bei Kriegsende 1945 noch zu jung, um im strafrechtlichen Sinn schuldig geworden zu sein, aber zu alt, um sich auf die Gnade der späten Geburt berufen zu können. Greiffenhagen nennt seinen Jahrgang „die letzte deutsche Generation“ und meint damit, dass seine Altersgenossen die letzten waren, die unter den Bedingungen des „deutschen Sonderwegs“ sozialisiert worden waren: „Das Jahr 1945 wurde für unsere Generation wie für keine andere zur politischen Wasserscheide. Wir sind die Generation des Umbruchs der bis dahin dominanten deutschen Tradition.“

Das Jahr 1945 wurde für die Flakhelfer zu einem Schlüsseldatum, von dem sie nicht mehr loskommen sollten. Als Kinder der „Reeducation“ durch die westlichen Siegermächte waren sie sich einig darüber, dass sich Deutschland vorbehaltlos der politischen Kultur des Westens öffnen und ohne Ressentiments auf die moderne Massendemokratie einlassen müsse.

Dieses Lob der urbanen Moderne wird freilich seltsam konterkariert durch die Rückzugsmöglichkeiten in die ländliche Idylle, die man sich stets offen hielt: Greiffenhagen zog es immer wieder in sein Haus in der Toskana, Dahrendorf in den Schwarzwald, Enzensberger an einen norwegischen Fjord, Habermas an den Starnberger See – und Kohl bekanntermaßen an den Wolfgangsee. Kehrt hier in der Lebenspraxis nicht jene ambivalente, kulturkritische Einstellung zur Moderne wieder, der man theoretisch abgeschworen hat?

„Vorsichtige, aber erfolgreiche junge Männer“

Greiffenhagen rechtfertigt diese ambivalenten Züge als „skeptische Zurückhaltung gegenüber radikalen Lösungen“, die vor jeder einseitigen Parteinahme zurückscheue. Er macht vielmehr gerade das „Entweder-Oder“, das keine Kompromisse kennt, für den Weg in die einstige deutsche Katastrophe verantwortlich. Das Stichwort von der „skeptischen Generation“ hat er sich vom Soziologen Helmut Schelsky ausgeliehen, der (Jahrgang 1912) in seinem gleichnamigen Buch von 1957 die unideologische und unpolitische Haltung der „vorsichtigen, aber erfolgreichen jungen Männer“ im Wirtschaftswunderland der Adenauer-Ära verteidigt hat.

1987, ein Jahr vor Greiffenhagens Autobiografie, ist im Suhrkamp Verlag eine Berliner Dissertation erschienen, die einen weniger freundlichen Blick auf die Generation des Stuttgarter Politikwissenschaftlers wirft. Heinz Bude, Jahrgang 1954, möchte in seinem Buch „Deutsche Karrieren – Lebenskonstruktionen sozialer Aufsteiger aus der Flakhelfer-Generation“ nachweisen, dass die „erfolgreichen jungen Männer“ der 50er-Jahre die Zäsur des Jahres 1945 nicht wirklich bewältigt haben, sondern durch einen „verbissenen Pragmatismus“ zu überspielen suchten.

Hinter ihrer „Funktionstüchtigkeit“ verberge sich „ein darunter liegendes Lebensgefühl des Schwindels, der Haltlosigkeit, der Unsicherheit“. Es handle sich um „Personen, die, innerlich haltlos, einen äußeren Halt durch eine elastische Anpassung an die Erwartungen der anderen suchen“. Die Flakhelfer, so versucht Bude an exemplarischen Lebensläufen zu zeigen, seien eine vaterlose, sprachlose und geschichtslose Generation, gezeichnet von „Identifikationsscheu“ und einer „Entsubjektivierung des eigenen Lebens“, „bindungslos und verstrickt zugleich“.

Das ist ein hartes Urteil. Aber nehmen wir einmal Hans-Dietrich Genscher, den langjährigen deutschen Außenminister. Er war berüchtigt dafür, sich in seinen öffentlichen Verlautbarungen nicht festzulegen, sondern „nach allen Seiten hin offen“ zu sein. Genau um diese Angst, etwas falsch zu machen, dieses Bestreben, sich nach allen Seiten hin abzusichern, geht es Bude. Der britische Historiker Timothy Garton Ash hat diese als „Genscherismus“ in den deutschen Wortschatz eingegangene Haltung einmal maliziös so beschrieben: „Man möchte freundschaftliche Beziehungen mit dem Himmel, vertiefte Partnerschaft mit der Erde, aber auch eine fruchtbare Zusammenarbeit mit der Hölle.“ Und der Publizist Karl Heinz Bohrer hat damals, in den 80er-Jahren, behauptet, in Bonn seien die Zombies an der Macht.

Abneigung gegen Entscheidungen

Die hier aufgezeigten Symptome lassen sich nicht nur bei denjenigen nachweisen, die wie Odo Marquard auf einer nationalsozialistischen Elite-Schule erzogen wurden oder deren Väter wie im Fall von Jürgen Habermas Parteimitglieder waren, sondern auch bei denen, deren Elternhaus wie bei Joachim Fest oder Robert Spaemann dem NS-Regime kritisch gegenüberstand oder wie bei Martin Greiffenhagen der Bekennenden Kirche angehörte. Risikoscheu und Skepsis können verschiedene Formen annehmen. Die Skepsis kann sich beispielsweise gegen die Moderne insgesamt und ihren Subjektivismus wenden wie bei Robert Spaemann oder Joseph Ratzinger, die Halt beim überindividuellen Naturrecht und der klassischen Metaphysik suchen, die dem Einzelnen die Last der subjektiven Entscheidung abnehmen sollen.

Aber auch ein Verteidiger der Moderne wie Jürgen Habermas hat überraschenderweise eine Abneigung gegen den Begriff der Entscheidung. Er vermutet dahinter den Dezisionismus von Carl Schmitt, der zwischen Freund und Feind unterscheidet, und weil Habermas genau dies vermeiden will, hat er eine Demokratietheorie ersonnen, die die Spaltung der Gesellschaft in Parteien durch einen Dauerdiskurs mit dem Ziel eines „herrschaftsfreien Konsenses“ überwinden will. Ist Habermas nicht der Genscher der Philosophie – einer, der es jedem Recht machen will? Jemand, der Angst davor hat, nicht „anschlussfähig“ zu sein, und deshalb in sein Theoriegebäude Elemente aller zeitgenössischen philosophischen Strömungen aufnimmt?

Permanenter Zickzackkurs

Die Intellektuellen aus der Flakhelfer-Generation waren nach dem Krieg entschlossen, mit der in ihren Augen spezifisch deutschen Tradition einer unpolitischen Innerlichkeit zu brechen. Aber was tun sie tatsächlich? Der Politikwissenschaftler Greiffenhagen gibt zu, er interessiere sich zwar für politische Theorie, verschmähe aber das direkte politische Engagement; der Soziologe Ralf Dahrendorf kehrt nach einem kurzen Intermezzo als FDP-Parlamentarier, Staatssekretär und EU-Kommissar desillusioniert aufs überparteiliche Feld der Wissenschaft zurück; und der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger entzieht sich wie seine Lieblingsfigur, der fliegende Robert aus dem „Struwwelpeter“, durch einen permanenten Zickzackkurs jeder genauen Ortsbestimmung. Weil man der deutschen Tradition des „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ entkommen und Politik nicht mehr als Entweder-oder, sondern als Sowohl-als-auch begreifen will, landet man am Ende bei einem Skeptizismus, dem alles gleich fragwürdig ist, oder bei einem alle Unterschiede und Feindschaften verwischenden „Alle Menschen werden Brüder“. Doch das ist die Wiederkehr der unpolitischen deutschen Innerlichkeit in neuem Gewand.

„Die Flakhelfer-Generation ist vielleicht die faktische, wenn auch nicht die normative Trägergeneration des westdeutschen Wiederaufstiegs. Die anpassungsgeschickten, aber mit verbissenem Willen ausgestatteten jungen Männer haben zwischen Mitte der 50er- und Mitte der 70er-Jahre das ‚Modell Deutschland’ mitaufgebaut.“ Heinz Budes Resümee, 1987 geschrieben, ist zwiespältig: Bei aller Anerkennung läutet es den Abschied von den letzten Kriegsteilnehmern ein. Für die Lösung der neuen Probleme, die Bude Mitte der 80er-Jahre heraufziehen sieht, taugen die alten Antworten nicht mehr. Sie seien gebunden „an die Modelle der Reproduktion des Status quo, Modelle der Transformation können sie nicht anbieten“.